04.06.2020

EU-Politikerin Eva Kaili über Startups und Digitalisierung: “Aggressive Politik der Ökosysteme”

Im Q&A mit dem brutkasten spricht Eva Kaili, Chair Science & Technology im EU-Parlament, über Europas Weg zur Digitalisierung - und welche Rolle Startups und KMU dabei spielen.
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Eva Kaili
Eva Kaili ist Chair Science & Technology im EU-Parlament. (c) Europäisches Parlament

Eva Kaili ist Chair Science & Technology im EU-Parlament, als solche treibt sie die digitalen Agenden der Europäischen Union maßgeblich voran. Doch kann Europa überhaupt mit digitalen Großmächten wie China und USA mithalten? Wenn ja, mit welchen Bereichen können wir punkten? Wie können Startups dabei unterstützen, welche Rolle spielen KMU? Und welche Learnings können aus der Corona-Krise gezogen werden? Diese Fragen beantwortet Eva Kaili dem brutkasten in einem ausführlichen Q&A. Der Kontakt wurde freundlicherweise von Berthold Baurek-Karlic, Managing Partner Venionaire Capital, hergestellt.

China plant, mehr als 1 Billion Dollar in einheimische Technologie zu investieren. Wie kann Europa da mithalten, und wie viel wird von den europäischen Institutionen in die Technologieindustrie investiert?

Eva Kaili: Ich verstehe die Tendenz, Vergleiche mit China oder anderen Ländern der Welt anzustellen. Aber ist es das, was zählt? Liegt dies am Problem der Investitionen? Wenn man das Problem auf einen Investitionsvergleich reduziert, dann bedeutet das, dass wir ein Problem auf der Angebotsseite haben, und das ist nicht wahr. In den letzten Jahren schuf die EU Horizon, CEF, EFSI, Strukturfonds, InvestEU und jetzt einen massiven Sanierungsplan. Wie viele Patente hat sie generiert? Wie viele dieser finanzierten Forschungsprojekte schufen marktfähige Produkte?

+++Q&A mit Dorothee Bär: Wie Deutschland auf Startups und Hightech setzt+++

Die Frage ist eine andere: Warum die USA und China ihre technologischen Durchbrüche erfolgreicher vermarkten als die Europäer. Liegt es daran, dass sie über bessere Technologie oder besseres Humankapital verfügen? Das glaube ich nicht. Sie haben die Fähigkeit, Technologietransfers viel leichter an die Basis der Pyramide zu übertragen: Amerika durch seine Labor-zu-Markt-Mechanismen und China, weil es eine Diktatur ist. Die EU hat strukturelle Probleme, die wir alle erkennen und mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber die Versorgung mit Kapital ist hier nicht unbedingt das kritischste Problem.

Welche Technologiesektoren sollen von der Unterstützung der EU profitieren?

Eva Kaili: Sie können die Prioritäten der Finanzierung in Haushaltsinstrumenten wie dem neuen Horizon-Europe und der Connecting Europe Facility sehen. Digitalisierung, Mobilität und Gesundheit und Biotechnologie sind die Hauptprioritäten. Bei den digitalen Investitionen haben wir eine starke Präferenz in KI, Datenanalyse, Blockchain, Hyper-Performance Computing, Cybersicherheit und Quantencomputing.

Die zweite sehr interessante Entwicklung ist, dass wir die Abhängigkeiten zum Cloud Computing lockern wollen.

Es gibt Pläne, die europäische Technologie- und Cloud-Infrastruktur mit Projekten wie Gaia-X oder Ö-Cloud resilienter zu machen. Aber wie kann dies gelingen, wenn die meiste Software und Hardware von außerhalb Europas kommt?

Eva Kaili: Die EU hat eine umfassende Datenstrategie und einen Plan für die digitale Infrastruktur entwickelt und vor zwei Monaten veröffentlicht. Wir planen, zwei Bereiche zu untersuchen: Erstens, Materialien einschließlich einer europäischen Kapazität zur Entwicklung eigener Chips, da es wichtig ist, eine entsprechende Policy zu entwerfen und die Effizienz und Interoperabilität eines Netzwerks in der integrierten Schaltung zu verbessern. Die zweite sehr interessante Entwicklung ist, dass wir die Abhängigkeiten zum Cloud Computing lockern wollen. Das bedeutet, dass wir sowohl eine europäische Kapazität als auch alternative Architekturen wie Edge/Mist/Fog-Computing entwickeln werden. Dies könnte eine bedeutende Entwicklung bei Strukturen für verbesserte Konnektivität und IoT sein.

Was kann getan werden, um die Produktion von Software und Hardware zurück nach Europa zu bringen?

Eva Kaili: Dies ist ein berechtigtes Anliegen, da sich die EU offenbar mehr auf Software als auf Hardware konzentriert. Ich habe keine direkte Antwort, aber eine Strategie kann nur dann entstehen, wenn wir eine systematische Sicht der IoT-Strategie und der miteinander verbundenen Knotenpunkte digitaler Identitäten und Daten der europäischen Bürger haben. Die EU hat sehr strenge Regeln, wenn es um den Schutz der Privatsphäre und die Sicherheit von Daten geht. Heute sind die Technologieanbieter in diesem Feld hauptsächlich Amerikaner und Chinesen. Die EU muss diese Infrastruktur besitzen. Ich glaube, je mehr die unmittelbare Notwendigkeit besteht, die Daten-Interkonnektivität zwischen den Mitgliedsstaaten zu skalieren, desto höher ist die Nachfrage nach wirklich europäischer Hardware.

Wie können Startups zu einer wachsenden europäischen Technologieszene beitragen…

Eva Kaili: Europäische Startups versuchen, ihr Bestes zu geben angesichts des finanziellen, unternehmerischen, bildungspolitischen und staatlichen Umfelds. Um Produktivität und Wirkung zu steigern, brauchen wir zwei Dinge: Anreize und Organisationsstrukturen. Die EU hatte nur sehr wenige positive Ergebnisse auf der Seite der Anreize und noch schlechtere Ergebnisse bei der Strukturierung von Innovations-Ökosystemen. Die erfolgreichen Fälle sind eher lokal konzentriert und das Ergebnis der Bemühungen lokaler Communities.

Wir versuchen nun, mit einer aggressiven Politik der Ökosysteme sowohl die Anreize als auch die Strukturen zu verbessern.

…und welche Unterstützung können Startups daher konkret von den europäischen Institutionen erhalten?

Eva Kaili: Wir versuchen nun, mit einer aggressiven Politik der Ökosysteme sowohl die Anreize als auch die Strukturen zu verbessern. Schauen Sie sich die Strategie der Digital Innovation Hubs (DIHs) an. Sie ist bereits öffentlich, und alle Mitgliedsstaaten bereiten ihre Vorschläge vor, mindestens einen DIH pro Region einzurichten. Die Idee besteht darin, Startups, Risikokapital, Unternehmen, Bildungsanbieter und die lokalen Regierungen in marktorientierten Ökosystemen zusammenzubringen, um die Skalierbarkeit zu verbessern und vor allem die Nachfrageseite für technologische Innovationen voranzutreiben. Nach meiner Erfahrung sind Zuschüsse, EFSI, Horizon und InvestEU Instrumente der Angebotsseite, aber wir wissen, dass “das Angebot keine eigene Nachfrage schafft” (vielleicht ist dies eines der wenigen Dinge, mit denen Keynes Recht hatte!). Die DIHs sind Instrumente, die darauf abzielen, die Nachfrage zu verbessern und den Technologietransfer in den realen Sektor, insbesondere in die KMU, zu beschleunigen.

Wie können KMU am Digitalisierungsprozess teilnehmen und welche Unterstützung erhalten sie dabei?

Eva Kaili: Die DIHs sind das beste Instrument. Sehen Sie sich auch die Ankündigungen der Kommission vom 28. Mai bezüglich des Sanierungsplans an. Die Prioritäten dort sind drei: Resilienz, Digitalisierung und der Green Deal. Es ist eine allgemeine Feststellung in den EU-Mitgliedsstaaten, dass jene KMU, die eine digitale Ebene in ihren Betriebsabläufen für die Wertschöpfung und -lieferung haben, viel widerstandsfähiger gegenüber den Angebots- und Nachfrageschocks von Covid-19 waren. Die Idee des Konjunkturprogramms besteht darin, die Finanzierung durch Voucher und andere Instrumente zu beschleunigen, damit die KMU so schnell wie möglich digitale Fähigkeiten entwickeln können. Dies ist ein bedeutendes Paket von 750 Mrd. Euro, von denen die 500 Zuschüsse und 250 Darlehen mit langen Laufzeiten sind. Dies ist jedoch nicht genug. Der Fall Covid-19 bewies den Unterschied zwischen “Digitization” (eine gewissen digitale Kapazität zu haben) und “Digitalization” (aufeinander abgestimmte Prozesse). Auch KMU sollten ihre Geschäftsmodelle und auch ihre Modelle zur Wertschöpfung ändern. Die “Digitization” reicht nicht aus.

Last, but not least: Selbst im Jahr 2020 ist die Zahl der weiblichen Startup-Gründerinnen relativ gering. Was kann man tun, um diese Situation zu verbessern?

Eva Kaili: Gezielte Programme können eine Lösung sein, die einem EU-Bürokraten instinktiv in den Sinn kommt. Jedoch wissen wir, dass Anreizmechanismen zwar notwendig, aber nicht ausreichend sind. Wir müssen die Frauen in die unternehmerischen Strukturen und in die Teams einbinden, um ihnen entscheidende Verantwortlichkeiten zuzuweisen. Schnelle Erfolgsgeschichten werden eine Erzählung aufbauen, die das Interesse und das Vertrauen von Frauen und Männern in den unternehmerischen Bereich stärken wird. Stereotype, dass Unternehmertum nur etwas für Männer sei, schaffen Teufelskreise und verstärken Normen, die schließlich zu Diskriminierungen führen, die Frauen benachteiligen und ihnen Zugang und Chancen verwehren.

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vlnr.: Verena Handler-Kunze. Peter Buchroithner, David Pflügl und Thomas Schranz | (c) Waffle
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Viele haben es versucht und nur die Allerwenigsten haben es geschafft: Ein neues soziales Medium zu etablieren ist wohl so etwas wie die Königsklasse im Startup-Bereich. Und das, obwohl das Lamento über die Riesen am Markt allgegenwärtig ist. Auch Peter Buchroithner, Thomas Schranz, David Pflügl und Verena Handler-Kunze sind mit dem bestehenden Angebot nicht zufrieden. Mit Rakun, das eine App für neurodivergente Menschen betreibt, haben die vier erst dieses Jahr ein neues Startup gegründet, wie brutkasten berichtete. Nun kommt mit Waffle ein weiteres dazu.

Waffle: “Back to the roots der sozialen Medien”

“Bei Waffle geht es sozusagen back to the roots der sozialen Medien. In den letzten Jahren habe ich das Gefühl, dass die Verbindung zu den Menschen, mit denen ich eigentlich Kontakt haben will, bei den gängigen Social-Media-Plattformen verloren gegangen ist. Facebook ist voller Werbung und Memes, auf Instagram sieht man Gelegentlich eine Hochzeit, aber es ist dominiert von Influencern, die dir etwas verkaufen wollen, und auf TikTok sind Leute, die tanzen und dich unterhalten”, sagt Peter Buchroithner im Gespräch mit brutkasten.

Auch auf Messaging-Apps wie WhatsApp und Telegram sei man zusehends mit Werbung konfrontiert und private und berufliche Kontakte würden sich mischen. “Jeder, der irgendwann einmal deine Nummer gehabt hat, kann dir einfach schreiben”, sagt Buchroithner. Das Team habe aber einen Ort schaffen wollen, wo man wirklich nur mit seinen besten Freund:innen kommuniziert.

Kein “Geschwafel” bei Waffle

Beziehungsweise “von ihnen hört”. Denn Waffle setzt auf Voice-Messages. “Man hat nicht immer Zeit, mit seinen Freunden zu telefonieren, aber es ist schön und man fühlt sich mehr verbunden, wenn man ihre Stimme hört. So sind wir auf das Thema Voicenotes gekommen”, sagt Buchroithner. Nicht nur im Namen setzt das Startup beim Social-Media-Trend “Wednesday Waffle” an, bei dem User:innen einer ausgewählten Gruppe an Leuten einmal in der Woche ein Update über sich geben.

(c) Waffle

Wer bei der Kombination aus “Social” und “Audio” also an die ebenso schnell aufgestiegene wie untergegangene “Social-Audio-App” Clubhouse gedacht hat, kann beruhigt sein – das Konzept ist ein völlig anderes. Bei Waffle sind die Voice-Messages auf eine Minute beschränkt und User:innen sind dazu aufgefordert, dazu jeweils ein Bild hochzuladen. Maximal drei dieser Nachrichten können pro Tag gesendet werden, um “Geschwafel” zu verhindern, wie man es aus überlangen WhatsApp-Voice-Messages kennt. Und nach 24 Stunden verschwinden diese wieder von selbst.

Ungefilterte Kommunikation mit Filtern

Doch das ist nicht die einzige bewusste Einschränkung. Wer sich bei der App, die aktuell nur für iOS verfügbar ist, registriert, kann genau acht Kontakte auswählen, um seine Messages mit diesen zu teilen. Weil man auch von anderen Menschen ausgewählt werden kann, kann man dennoch in mehreren solchen Neun-Personen-Kreisen sein. “Es geht darum, nur den Leuten Updates zu geben, denen man wirklich alles erzählen kann. Es geht um ungefilterte Kommunikation”, so Peter Buchroithner.

(c) Waffle

Wobei: Filter sind bei Waffle durchaus geplant, erzählt der Gründer. “So, wie man bei Snapchat Filter über Fotos und Videos legen kann, wird man das bei uns mit dem Ton machen können – also etwa mit Darth-Vader-Stimme sprechen.” Generell wolle man im Thema Voice noch “sehr, sehr vieles dazubauen”.

“Ich denke, das Produkt hat das Potenzial, dass es von 100 Millionen Menschen verwendet wird”

Neben der Produktentwicklung geht es in den kommenden Monaten aber natürlich vor allem auch darum, viele User:innen in die App zu bekommen. Eine Android-Version soll daher bald folgen und die Plattform Product Hunt soll für Aufmerksamkeit sorgen. Firmenseitig befindet sich Waffle gerade als GmbH in Wien in Gründung. “Und wir planen auch eine Investment-Runde”, verrät Buchroithner.

In Sachen Monetarisierung werde man, wie andere soziale Medien, auf Werbung setzen. “Das ist in diesem Fall natürlich ein sehr sensibles Thema. Die Leute werden bei Waffle wohl nicht so tolerant sein wie etwa auf Facebook. Wir werden also mit ausgewählten Marken über eine Zusammenarbeit sprechen”, räumt der Gründer ein. Das sei aber “aktuell nicht wirklich hoch in der Priorität”. Denn zuerst gelte es, viele User:innen zu bekommen. “Ich denke, das Produkt hat das Potenzial, dass es von 100 Millionen Menschen verwendet wird. Und wenn man sowas schafft, dann ist die Monetarisierung nie ein Problem.”

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