11.04.2022

FlexCo: Wegfall von Notar-Pflicht würde Verfahren verzögern, nicht beschleunigen

Jakobus Schuster, Co-Founder des Wiener Startups notarity, erklärt im Gastkommentar, warum er die vielfach geforderte Abschaffung der notariellen Formerfordernisse in der FlexCo / FlexKap für falsch hält.
/artikel/flexco-wegfall-von-notar-pflicht-wuerde-verfahren-verzoegern-nicht-beschleunigen
Jakobus Schuster hält die vielfach geforderte Abschaffung der notariellen Formerfordernisse in der neuen Rechtsform FlexCo / FlexKap für falsch
Jakobus Schuster hält die vielfach geforderte Abschaffung der notariellen Formerfordernisse in der neuen Rechtsform FlexCo / FlexKap für falsch | (c) notarity
kommentar

Notar:innen erfüllen im Bereich des GmbH-Rechts wichtige rechtspflegende Funktionen. Eine Abschaffung notarieller Formerfordernisse in der neuen Rechtsform FlexCo / FlexKap würde zu Rechtsunsicherheit und Verzögerungen von Verfahren anstatt zu Beschleunigungen führen. Es sind andere Maßnahmen zu ergreifen, die zu mehr Flexibilität bei GmbH-gesellschaftsrechtlichen Vorgängen führen werden.

Ich bin Gründer und Geschäftsführer der notarity GmbH. In dieser Funktion hatte ich schon öfters Termine bei Notar:innen. Etwa bei der Gründung der GmbH oder unser kürzlich durchgeführten Kapitalerhöhung. Physisch anwesend zur Unterschrift eines Dokuments bei einer Notar:in war ich aber noch nie. Alle unsere Notariatsakte und Beglaubigungen haben wir bislang digital abgewickelt. Schnell, unkompliziert und flexibel. Als Hürde habe ich den Notariatsakt bislang so nicht wahrgenommen. In der aktuellen Debatte um die FlexCo bzw. FlexKap wird viel über die Rolle von Notar:innen diskutiert. Die Abschaffung von notariellen Formerfordernissen in der FlexCo mag auf den ersten Blick populär klingen, ist aber auf den zweiten Blick nicht zu begrüßen.

Notar:innen als Gatekeeper für Firmenbuchgerichte

Die Kernaufgabe von Notar:innen ist die Errichtung von öffentlichen Urkunden. Öffentliche Urkunden haben in Österreich die Vermutung, dass diese echt sind und erbringen den vollen Beweis dessen, was darin vor der Notar:in erklärt wurde.

Im diskutierten Bereich der notariellen Formerfordernisse im GmbH-Gesellschaftsrecht dienen solche öffentlichen Urkunden in der Regel dazu, Eintragungen im Firmenbuch zu erwirken. Beim Firmenbuch handelt es sich um ein öffentliches Verzeichnis. In das Firmenbuch werden grundlegende Tatsachen zu Unternehmen eingetragen und öffentlich einsichtig gemacht. Für das reibungslose Funktionieren unserer Rechtsordnung ist es wichtig, dass die Informationen im Firmenbuch zutreffend und aktuell sind. In anderen Rechtsordnungen, die kein mit dem Firmenbuch vergleichbares Regime haben, sind etwa im Falle einer Übertragung von Geschäftsanteilen an einem Unternehmen aufwändige Recherchen über die Eigentumsverhältnisse nötig. Das kann zu hohen Kosten und zeitlichen Verzögerungen führen. Das Firmenbuch erfüllt also eine wichtige Funktion zur Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

Die rechtspflegende Funktion der Notar:innen trägt dazu bei, Prozesse effizient, schnell und fehlerfrei abzuwickeln.

Durch die Pflicht zum Notariatsakt bei der Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen wird sichergestellt, nicht übereilt und schlecht dokumentiert Anteile an GmbHs zu übertragen. Notar:innen haben hier also eine Gatekeeperfunktion. Vorgänge, die zur Änderung von Eintragungen im Firmenbuch führen, werden durch Notar:innen betreut. Damit tragen Notar:innen zur Richtigkeit des Firmenbuchs und zur Entlastung der Firmenbuchgerichte bei.

Notar:innen in Österreich so digital wie in kaum einem anderen Land in Europa

In der Diskussion um die Rolle von Notar:innen bei Kapitalerhöhungen, Anteilsübertragungen etc. wird wiederholt behauptet, dass ein Entfall der notariellen Einbindung zu einer einfacheren Beteiligung von Investor:innen am Unternehmen und einer generellen Beschleunigung von Prozessen führe. Österreichs Notar:innen sind allerdings mittlerweile so flexibel aufgestellt, dass es zu keinen Verzögerungen im Prozess kommt.

Die Notar:innen in Österreich sind so digital wie in kaum einem anderen Land in Europa. Beinahe alle notariellen Formerfordernisse können auch digital abgewickelt werden. Digitale Termine bei österreichischen Notar:innen sind kurzfristig und flexibel verfügbar. Als Gründer kann ich heute für in einer Stunde oder weniger einen digitalen Unterfertigungstermin bei einer Notar:in vereinbaren. Die fertigen Dokumente hatten wir jeweils wenige Minuten nach dem digitalen Notariatstermin – ebenfalls in digitaler Form. Mit notarity bauen wir außerdem eine Plattform, die digitale Termine für Notar:innen und deren Klient:innen so einfach machen, dass diese für den Regelbetrieb im Notariat in Frage kommen.

FlexCo: Überlastung von Firmenbuchgerichten vermeiden

Würde der Notariatsakt bzw. die notarielle Beglaubigung in der FlexCo bei Umständen, welche Eingang in das Firmenbuch finden sollen, entfallen, würde das diese Vorgänge schlechter dokumentiert und langsamer machen. Die Prüfung dieser Vorgänge wird dann nämlich allein bei den Rechtspflegern an den Firmenbuchgerichten hängen bleiben. Diese müssen sicherstellen, dass die Informationen im Firmenbuch zutreffend sind. Erhalten die Rechtspfleger diese Eingaben zum Firmenbuch vollständig ungefiltert, wird das zunächst einmal zu einem deutlichen Mehraufwand an den Firmenbuchgerichten führen. Es wird schwierig werden, hier schnelle und effiziente Prozesse zu entwickeln. Es ist in meinen Augen ein Irrglaube, dass die Abschaffung von notariellen Formerfordernissen zur Beschleunigung von Prozessen führen wird. Vielmehr trägt die rechtspflegende Funktion der Notar:innen hier dazu bei, Prozesse effizient, schnell und fehlerfrei abzuwickeln.

Sinnvolle Maßnahmen zur Beschleunigung und Flexibilisierung

Nach meiner bisherigen Erfahrung entstehen Verzögerungen und Hindernisse für eine flexible Abwicklung gesellschaftsrechtlicher Vorgänge nicht bei Notar:innen sondern zB beim Einholen einer Steuernummer. Hier wäre eine eigentliche Stellschraube, an der angesetzt werden müsste. Auf die Steuernummer wartet man oft tage-, wenn nicht sogar wochenlang. Der Notariatsakt kann hingegen in wenigen Stunden vereinbart und im Bedarfsfall digital & flexibel abgewickelt werden. Durch eine Implementierung effizienter Prozesse im Eintragungsverfahren kann der Prozess stark beschleunigt werden.

Für eine noch bessere Anwendbarkeit von digitalen notariellen Dienstleistungen sollte der Gesetzgeber die Möglichkeit der Errichtung von hybriden Urkunden schaffen. Auf hybriden Urkunden signiert ein Teil digital und der andere Teil analog. So entsteht eine weitere Flexibilisierung bei der Erfüllung notarieller Formerfordernisse, da alle Zeichnenden den Prozess wählen können, der für sie am besten funktioniert.

Eine weitere leicht auszumerzende Hürde, die zu Verzögerungen führen kann, ist die praktizierte Notwendigkeit zur Vorlage von Vertretungsnachweisen bei Gesellschaften aus dem Ausland. Ein solcher Vertretungsnachweis bei einer ausländischen Gesellschaft muss von einer Notar:in aus dem Herkunftsstaat beglaubigt sein. Wird hier auch noch eine Apostille erforderlich, kann das den Prozess stark einbremsen. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch Notar:innen aus Österreich in ausländische Register Einsicht nehmen und diesen Vertretungsnachweis ausstellen können. Auch hier ist der Gesetzgeber zum Handeln aufgerufen.

Weitere Vorteile von Notariatsakten

Neben der nun hinlänglich beschriebenen Gatekeeperfunktion von Notar:innen beim Firmenbuch, hat die Einbindung von Notar:innen aber auch eine Reihe weiterer Vorteile.

Notar:innen sind unabhängige Rechtsberater:innen, welche die Interessen aller Beteiligten im Blick haben. Notar:innen sind nicht parteiisch. Bei so gewichtigen Entscheidungen wie der Gründung einer GmbH oder dem Verkauf von GmbH-Anteilen sorgen sie damit für ausgewogene vertragliche Verhältnisse. Es mag im Einzelfall richtig sein, dass beide Vertragsparteien sehr gut anwaltlich beraten und ausreichend über die rechtlichen Risiken aufgeklärt sind. Das ist aber bei weitem nicht in allen Fällen so. Hier eine legistische Entscheidung zu treffen, wann die einzelnen Vertragsparteien „genug beraten“ sind, erscheint mir unrealistisch. Denkbar wäre etwa, dass auf ausdrücklichen Wunsch der Parteien auf das Vorlesen des Notariatsaktes verzichtet werden kann, nicht aber auf die Belehrungen und die Rechtsberatung.

Darüber hinaus können sauber aufgesetzte und ausgewogene Verträge späteren Streit vermeiden. Notar:innen sind darin Profis. Eigentlich vermeidbare gerichtliche Auseinandersetzungen sind langwierig und teuer. Dieser Aufwand kann durch eine frühzeitige Einbindung von Notar:innen verhindert werden.

Der Entfall der Einbindung von Notar:innen in der FlexCo würde nicht zu den gewünschten Regelungszielen führen

Wie gezeigt würde der Entfall der Einbindung von Notar:innen in der FlexCo bzw. FlexKap nicht zu den gewünschten Regelungszielen führen. Vielmehr wird ein Entfall der notariellen Formerfordernisse zu weniger Rechtssicherheit und damit verbundenen höheren Kosten führen. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass Firmenbuchgerichte überlastet werden, es häufig zur Ablehnung von Eintragungen und langen Verfahrensdauern kommen würde.

In Österreich bestehen schon heute die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Notariatsakte digital, flexibel und kurzfristig ermöglichen. Ich beobachte jedoch auch, dass bei vielen Klient:innen die Skepsis gegenüber digitalen Notariatsakten noch gegeben ist. Hier ist es vielmehr Aufgabe der Kund:innen, diese auch aktiv einzufordern sowie Aufgabe von Rechtsanwält:innen und Notar:innen, diese digitalen Dienstleistungen nicht als mühsame Option für den Ausnahmefall darzustellen. Digitale Notariatsakte funktionieren gut und sind dafür geeignet, die Regelungsziele zu erreichen, die gerade mit der vollkommenen Abschaffung der notariellen Formerfordernisse zu erzielen versucht werden. Ein populistischer und unüberlegter Vorstoß mit der Abschaffung notarieller Formerfordernisse wird dagegen zu mehr Problemen führen und die Regelungsziele verfehlen.

Deine ungelesenen Artikel:
03.02.2025

KI in Europa: „Müssen aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Was braucht es, damit Österreich und Europa bei künstlicher Intelligenz nicht zurückfallen? Diese Frage diskutierten Hermann Erlach (Microsoft), Marco Porak (IBM), Peter Ahnert (Nagarro) und Jeannette Gorzala in der vorerst letzten Folge der brutkasten-Serie "No Hype KI".
/artikel/no-hype-ki-folge-6
03.02.2025

KI in Europa: „Müssen aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Was braucht es, damit Österreich und Europa bei künstlicher Intelligenz nicht zurückfallen? Diese Frage diskutierten Hermann Erlach (Microsoft), Marco Porak (IBM), Peter Ahnert (Nagarro) und Jeannette Gorzala in der vorerst letzten Folge der brutkasten-Serie "No Hype KI".
/artikel/no-hype-ki-folge-6
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM AustriaIBMITSVMicrosoftNagarroRed Hat und Universität Graz.


Wo stehen wir wirklich, was die Adaption von künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft angeht? Diese Frage zu beantworten war eines der Ziele der Serie „No Hype KI„, die brutkasten anlässlich des zweijährigen Bestehens von ChatGPT gestartet hat. Die ersten fünf Folgen beleuchten unterschiedliche Aspekte des Themas und lieferten eine Bestandsaufnahme.

Im Staffelfinale, der sechsten Folge, war der Blick dann in Richtung Zukunft gerichtet. Dazu fanden sich die Österreich-Chefs von Microsoft und IBM, Hermann Erlach und Marco Porak, sowie Nagarros Big Data & AI Practice Lead für Central Europe, Peter Ahnert, und KI-Expertin Jeannette Gorzala, die auch Mitglied des KI-Beirats der österreichischen Bundesregierung ist, im brutkasten-Studio ein.

„Der Hype ist weg und das ist eine gute Sache“

Eine der Erkenntnisse der Serie: Unternehmen und Institutionen verabschieden sich von überschwänglichen Erwartungen und sehen sich stattdessen an, wie KI tatsächlich in der Praxis eingesetzt wird. „Der Hype ist weg und das ist eine gute Sache, weil jetzt kann man auf den Use Case gehen“, sagt Hermann Erlach, General Manager von Microsoft Österreich, im Videotalk. Er vergleicht den aktuellen Reifegrad von KI mit dem Beginn einer langen Reise: „Wenn ich so eine Reise angehe, dann brauche ich ein Ziel, einen Plan und Mitreisende. Alleine macht das wenig Spaß.“

Auch Marco Porak, General Manager von IBM in Österreich, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Er sieht das abgelaufene Jahr als eine Phase der Erkenntnis. Den Status Quo bei KI in Österreichs Unternehmen beschreibt er im Talk folgendermaßen: „Wir haben allerorts sehr viel ausprobiert, sind vielleicht da und dort auf die Nase gefallen“. Gleichzeitig habe es auch „schöne Erfolge“ gegeben. Für Porak ist klar: „Die Frage der Stunde lautet: Wie machen wir jetzt von hier weiter?“

AI Act: „Jetzt müssen wir ins Tun kommen“

Ein großes Thema dabei ist der AI Act der EU. Jeannette Gorzala, Gründerin von Act.AI.Now, plädiert für eine pragmatische Haltung gegenüber der EU-Verordnung: „Der AI-Act ist ein Faktum, er ist da. Jetzt müssen wir ins Tun kommen.“ Sie sieht in dem Regelwerk einen Wegweiser: „Wir müssen die entsprechenden Kompetenzen aufbauen und die Möglichkeiten nutzen, die diese Regulierung bietet. Das ist der Reiseplan, den wir brauchen.“

Auch Marco Porak sieht den AI Act positiv: „Er hat nicht die Algorithmen reguliert, sondern gesagt, was wir in Europa gar nicht wollen, etwa Sozialpunktesysteme oder Gesichtserkennung in Echtzeit.“ So entstehe für Unternehmen im globalen Wettbewerb ein Vorteil, wenn sie ihre KI-Anwendung nach europäischen Maßstäben zertifizieren lassen: „Das ist wie ein Gütesiegel.“

„Müssen positiv aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Hermann Erlach von Microsoft bezeichnet den Ansatz des AI Act ebenfalls als „gut“, betont aber gleichzeitig, dass es jetzt auf die Umsetzung von KI-Projekten ankomme: „Wir haben eine Situation, in der jedes Land an einem neuen Startpunkt steht und wir positiv aggressiv reingehen müssen, um unseren Wohlstand zu halten.“

Peter Ahnert sieht dabei auch ein Problem in der öffentlichen Wahrnehmung: KI werde tendenziell nicht nur zu klein gedacht, sondern meist auch in Zusammenhang mit Risiken wahrgenommen: „Es werden die Chancen nicht gesehen.“ Woran liegt es? „Zu einem erheblichen Teil daran, dass noch zu wenig Bildung und Aufklärung an dem Thema da ist. In Schulen, in Universitäten, aber auch in Unternehmen und in der öffentlichen Hand.“ Hier müsse man ansetzen, sagt der Nagarro-Experte.

Jeannette Gorzala sieht das ähnlich: „Bildung und Kompetenz ist das große Thema unserer Zeit und der zentrale Schlüssel.“ Verstehe man etwas nicht, verursache dies Ängste. Bezogen auf KI heißt das: Fehlt das Verständnis für das Thema, setzt man KI nicht ein. Die Opportunitätskosten, KI nicht zu nutzen, seien aber „viel größer“ als das Investment, das man in Bildung und Governance tätigen müssen. „Natürlich ist es ein Effort, aber es ist wie ein Raketenstart“, sagt Gorzala.

IBM-Programm: „Die Angst war weg“

Wie das in der Praxis funktionieren kann, schilderte IBM-Chef Porak mit einem Beispiel aus dem eigenen Unternehmen. IBM lud weltweit alle Mitarbeitenden zu einer KI-Challenge, bei der Mitarbeiter:innen eigene KI-Use-Cases entwickelten, ein – mit spürbaren Folgen: „Die Angst war weg.“ Seine Beobachtung: Auch in HR-Teams stieg die Zufriedenheit, wenn sie KI als Assistenz im Arbeitsablauf nutzen. „Sie können sich auf die komplexen Fälle konzentrieren. KI übernimmt die Routine.“

Microsoft-Chef Erlach warnt auch davor, das Thema zu stark unter Bezug auf rein technische Skills zu betrachten: „Die sind notwendig und wichtig, aber es geht auch ganz viel um Unternehmens- und Innovationskultur. Wie stehen Führungskräfte dem Thema AI gegenüber? Wie steht der Betriebsrat dem Thema AI gegenüber?“, führt er aus.

Venture Capital: „Müssen in Europa ganz massiv was tun“

Soweit also die Unternehmensebene. Einen große Problemstelle gibt es aber noch auf einem anderen Level: Der Finanzierung von Innovationen mit Risikokapital. „An der Stelle müssen wir in Europa ganz massiv was tun“, merkte Ahnert an. Er verwies auf Beispiele wie DeepMind, Mistral oder Hugging Face, hinter denen jeweils europäische Gründer stehen, die aber in den USA gegründet, ihre Unternehmen in die USA verkauft oder zumindest vorwiegend aus den USA finanziert werden.

Der Nagarro-Experte verwies dazu auf eine Studie des Applied AI Institute, für die Startups aus dem Bereich generative KI zu den größten Hürden, mit denen sie es zu tun haben, befragt wurden. „51 Prozent haben Funding genannt. Weit abgeschlagen an zweiter Stelle mit 24 Prozent erst kam die Regulierung und unter 20 Prozent waren Themen wie Fachkräftemangel oder Zugang zu Compute Power.“ Ahnerts Appell: „Bei dem Thema Finanzierung müssen wir was tun, damit wir in der nächsten Welle an der Spitze sind.“

Erlach: Adaption entscheidend

Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: „Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.“ Die wichtigere Frage sei also: „Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?“

Marco Porak ergänzt: „Ganz, ganz wesentlich ist Mut. Ganz, ganz wesentlich ist unsere kulturelle Einstellung zu dem Thema.“ Man müsse die Chancen sehen und weniger das Risiko. In der Regulatorik könne man dies begleiten, indem man Anreize schafft. „Und ich glaube, wenn wir das als Österreich mit einem großen Selbstbewusstsein und auch als Europa mit einem großen Selbstbewusstsein machen, dann haben wir in fünf Jahren eine Diskussion, die uns durchaus stolz machen wird.“


Die gesamte Folge ansehen:


Die Nachlesen der bisherigen Folgen:

Folge 1: „No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?“

Folge 2: „Was kann KI in Gesundheit, Bildung und im öffentlichen Sektor leisten?“

Folge 3: “Der größte Feind ist Zettel und Bleistift”: Erfolgsfaktoren und Herausforderungen in der KI-Praxis”

Folge 4: KI-Geschäftsmodelle: “Wir nutzen nur einen Bruchteil dessen, was möglich ist”

Folge 5: Open Source und KI: “Es geht nicht darum, zu den Guten zu gehören”


Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.

No Hype KI

03.02.2025

KI in Europa: „Müssen aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Was braucht es, damit Österreich und Europa bei künstlicher Intelligenz nicht zurückfallen? Diese Frage diskutierten Hermann Erlach (Microsoft), Marco Porak (IBM), Peter Ahnert (Nagarro) und Jeannette Gorzala in der vorerst letzten Folge der brutkasten-Serie "No Hype KI".
03.02.2025

KI in Europa: „Müssen aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Was braucht es, damit Österreich und Europa bei künstlicher Intelligenz nicht zurückfallen? Diese Frage diskutierten Hermann Erlach (Microsoft), Marco Porak (IBM), Peter Ahnert (Nagarro) und Jeannette Gorzala in der vorerst letzten Folge der brutkasten-Serie "No Hype KI".
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM AustriaIBMITSVMicrosoftNagarroRed Hat und Universität Graz.


Wo stehen wir wirklich, was die Adaption von künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft angeht? Diese Frage zu beantworten war eines der Ziele der Serie „No Hype KI„, die brutkasten anlässlich des zweijährigen Bestehens von ChatGPT gestartet hat. Die ersten fünf Folgen beleuchten unterschiedliche Aspekte des Themas und lieferten eine Bestandsaufnahme.

Im Staffelfinale, der sechsten Folge, war der Blick dann in Richtung Zukunft gerichtet. Dazu fanden sich die Österreich-Chefs von Microsoft und IBM, Hermann Erlach und Marco Porak, sowie Nagarros Big Data & AI Practice Lead für Central Europe, Peter Ahnert, und KI-Expertin Jeannette Gorzala, die auch Mitglied des KI-Beirats der österreichischen Bundesregierung ist, im brutkasten-Studio ein.

„Der Hype ist weg und das ist eine gute Sache“

Eine der Erkenntnisse der Serie: Unternehmen und Institutionen verabschieden sich von überschwänglichen Erwartungen und sehen sich stattdessen an, wie KI tatsächlich in der Praxis eingesetzt wird. „Der Hype ist weg und das ist eine gute Sache, weil jetzt kann man auf den Use Case gehen“, sagt Hermann Erlach, General Manager von Microsoft Österreich, im Videotalk. Er vergleicht den aktuellen Reifegrad von KI mit dem Beginn einer langen Reise: „Wenn ich so eine Reise angehe, dann brauche ich ein Ziel, einen Plan und Mitreisende. Alleine macht das wenig Spaß.“

Auch Marco Porak, General Manager von IBM in Österreich, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Er sieht das abgelaufene Jahr als eine Phase der Erkenntnis. Den Status Quo bei KI in Österreichs Unternehmen beschreibt er im Talk folgendermaßen: „Wir haben allerorts sehr viel ausprobiert, sind vielleicht da und dort auf die Nase gefallen“. Gleichzeitig habe es auch „schöne Erfolge“ gegeben. Für Porak ist klar: „Die Frage der Stunde lautet: Wie machen wir jetzt von hier weiter?“

AI Act: „Jetzt müssen wir ins Tun kommen“

Ein großes Thema dabei ist der AI Act der EU. Jeannette Gorzala, Gründerin von Act.AI.Now, plädiert für eine pragmatische Haltung gegenüber der EU-Verordnung: „Der AI-Act ist ein Faktum, er ist da. Jetzt müssen wir ins Tun kommen.“ Sie sieht in dem Regelwerk einen Wegweiser: „Wir müssen die entsprechenden Kompetenzen aufbauen und die Möglichkeiten nutzen, die diese Regulierung bietet. Das ist der Reiseplan, den wir brauchen.“

Auch Marco Porak sieht den AI Act positiv: „Er hat nicht die Algorithmen reguliert, sondern gesagt, was wir in Europa gar nicht wollen, etwa Sozialpunktesysteme oder Gesichtserkennung in Echtzeit.“ So entstehe für Unternehmen im globalen Wettbewerb ein Vorteil, wenn sie ihre KI-Anwendung nach europäischen Maßstäben zertifizieren lassen: „Das ist wie ein Gütesiegel.“

„Müssen positiv aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Hermann Erlach von Microsoft bezeichnet den Ansatz des AI Act ebenfalls als „gut“, betont aber gleichzeitig, dass es jetzt auf die Umsetzung von KI-Projekten ankomme: „Wir haben eine Situation, in der jedes Land an einem neuen Startpunkt steht und wir positiv aggressiv reingehen müssen, um unseren Wohlstand zu halten.“

Peter Ahnert sieht dabei auch ein Problem in der öffentlichen Wahrnehmung: KI werde tendenziell nicht nur zu klein gedacht, sondern meist auch in Zusammenhang mit Risiken wahrgenommen: „Es werden die Chancen nicht gesehen.“ Woran liegt es? „Zu einem erheblichen Teil daran, dass noch zu wenig Bildung und Aufklärung an dem Thema da ist. In Schulen, in Universitäten, aber auch in Unternehmen und in der öffentlichen Hand.“ Hier müsse man ansetzen, sagt der Nagarro-Experte.

Jeannette Gorzala sieht das ähnlich: „Bildung und Kompetenz ist das große Thema unserer Zeit und der zentrale Schlüssel.“ Verstehe man etwas nicht, verursache dies Ängste. Bezogen auf KI heißt das: Fehlt das Verständnis für das Thema, setzt man KI nicht ein. Die Opportunitätskosten, KI nicht zu nutzen, seien aber „viel größer“ als das Investment, das man in Bildung und Governance tätigen müssen. „Natürlich ist es ein Effort, aber es ist wie ein Raketenstart“, sagt Gorzala.

IBM-Programm: „Die Angst war weg“

Wie das in der Praxis funktionieren kann, schilderte IBM-Chef Porak mit einem Beispiel aus dem eigenen Unternehmen. IBM lud weltweit alle Mitarbeitenden zu einer KI-Challenge, bei der Mitarbeiter:innen eigene KI-Use-Cases entwickelten, ein – mit spürbaren Folgen: „Die Angst war weg.“ Seine Beobachtung: Auch in HR-Teams stieg die Zufriedenheit, wenn sie KI als Assistenz im Arbeitsablauf nutzen. „Sie können sich auf die komplexen Fälle konzentrieren. KI übernimmt die Routine.“

Microsoft-Chef Erlach warnt auch davor, das Thema zu stark unter Bezug auf rein technische Skills zu betrachten: „Die sind notwendig und wichtig, aber es geht auch ganz viel um Unternehmens- und Innovationskultur. Wie stehen Führungskräfte dem Thema AI gegenüber? Wie steht der Betriebsrat dem Thema AI gegenüber?“, führt er aus.

Venture Capital: „Müssen in Europa ganz massiv was tun“

Soweit also die Unternehmensebene. Einen große Problemstelle gibt es aber noch auf einem anderen Level: Der Finanzierung von Innovationen mit Risikokapital. „An der Stelle müssen wir in Europa ganz massiv was tun“, merkte Ahnert an. Er verwies auf Beispiele wie DeepMind, Mistral oder Hugging Face, hinter denen jeweils europäische Gründer stehen, die aber in den USA gegründet, ihre Unternehmen in die USA verkauft oder zumindest vorwiegend aus den USA finanziert werden.

Der Nagarro-Experte verwies dazu auf eine Studie des Applied AI Institute, für die Startups aus dem Bereich generative KI zu den größten Hürden, mit denen sie es zu tun haben, befragt wurden. „51 Prozent haben Funding genannt. Weit abgeschlagen an zweiter Stelle mit 24 Prozent erst kam die Regulierung und unter 20 Prozent waren Themen wie Fachkräftemangel oder Zugang zu Compute Power.“ Ahnerts Appell: „Bei dem Thema Finanzierung müssen wir was tun, damit wir in der nächsten Welle an der Spitze sind.“

Erlach: Adaption entscheidend

Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: „Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.“ Die wichtigere Frage sei also: „Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?“

Marco Porak ergänzt: „Ganz, ganz wesentlich ist Mut. Ganz, ganz wesentlich ist unsere kulturelle Einstellung zu dem Thema.“ Man müsse die Chancen sehen und weniger das Risiko. In der Regulatorik könne man dies begleiten, indem man Anreize schafft. „Und ich glaube, wenn wir das als Österreich mit einem großen Selbstbewusstsein und auch als Europa mit einem großen Selbstbewusstsein machen, dann haben wir in fünf Jahren eine Diskussion, die uns durchaus stolz machen wird.“


Die gesamte Folge ansehen:


Die Nachlesen der bisherigen Folgen:

Folge 1: „No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?“

Folge 2: „Was kann KI in Gesundheit, Bildung und im öffentlichen Sektor leisten?“

Folge 3: “Der größte Feind ist Zettel und Bleistift”: Erfolgsfaktoren und Herausforderungen in der KI-Praxis”

Folge 4: KI-Geschäftsmodelle: “Wir nutzen nur einen Bruchteil dessen, was möglich ist”

Folge 5: Open Source und KI: “Es geht nicht darum, zu den Guten zu gehören”


Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.

No Hype KI

Toll dass du so interessiert bist!
Hinterlasse uns bitte ein Feedback über den Button am linken Bildschirmrand.
Und klicke hier um die ganze Welt von der brutkasten zu entdecken.

brutkasten Newsletter

Aktuelle Nachrichten zu Startups, den neuesten Innovationen und politischen Entscheidungen zur Digitalisierung direkt in dein Postfach. Wähle aus unserer breiten Palette an Newslettern den passenden für dich.

Montag, Mittwoch und Freitag