24.11.2017

Zombies, Aliens & Star Trek: „Lemmings“-Inkubator holt Silicon Valley Mindset nach Wien

Mitten im kreativen Herzen Wiens, ganz ohne mediale Aufmerksamkeit und rein mit Hilfe der wachsenden Lemmings-Community wurde von Thomas Schranz, Allan Berger und David Pflügl ein Inkubatorprogramm aus dem Boden gestampft, das längst auch mit Programmen aus dem Silicon Valley mithalten kann. Die Bewerbungsphase für den vierten Batch des Wiener Artificial Intelligence und Chatbots-Inkubator "Lemmings.io" geht noch bis Anfang Jänner.
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Der Lemmings-Inkubator zeichnet sich auch durch eine Hohe IT-Frauenquote aus.

Um das entrepreneurische Mindset werden Amerikaner oft beneidet, dabei muss man nicht nach San Francisco fliegen, um Teil einer Gründercommunity zu werden, die genau dieses Gedankengut lebt. Ganz nach dem amerikanischen “Let’s do this”-Ansatz riefen die Gründer Thomas Schranz, Allan Berger und David Pflügl vor inzwischen über einem Jahr “Lemmings.io” ins Leben. Ein Inkubator, der sich um die Entwicklung von Konzepten und Projekten rund um angewandte Artificial Intelligence dreht. Den ersten Batch, der wie die folgenden rein über Mundpropaganda beworben wurde, konnten im Sommer letzten Jahres über dreißig Teilnehmer durchlaufen.

Silicon Valley mitten in Wien

Allan Berger, Thomas Schranz und David Pflügl, die Organisatoren und Gründer von Lemmings.io.

Wahrscheinlich ist es ihrer Zeit im Silicon Valley zu verdanken, dass Schranz und Berger gemeinsam mit David Pflügl rein mit einer Idee im Gepäck und ohne viel Tamtam an einem Abend beschlossen, ihre Inkubator-Idee einfach umzusetzen und auszuprobieren.

International sind die drei jedenfalls bestens vernetzt. In ihrem Telefonbuch befinden sich etwa die direkten Kontakte zu erfolgreichen Startup-Programmen wie dem britischen Seedcamp oder dem amerikanischen Y-Combinator. Berger und Schranz haben selbst mehrere Jahre in San Francisco verbracht und möchten mit Lemmings die “can do”- und “pay it forward”- Kultur nach Wien bringen. In Amerika ist dieses Gedankengut selbstverständlich- da kann sich Europa noch etwas abschauen, gerade auch in Hinblick auf die „Scheiterkultur“. 

Aww, got mail from Sam Altman / Y Combinator ?/cc Michael, Jan, Gustav

Gepostet von Thomas Schranz am Mittwoch, 20. September 2017

Community-Gedanke trifft auf Künstliche Intelligenz

“Wir wollten einfach die neugierigsten Köpfe der Stadt zusammen bringen und uns anschauen, was passiert, wenn wir den Sommer über die Grenzen von “Künstlicher Intelligenz” austesten”, meint Schranz über den Startschuss und das Warum von Lemmings.

Drei Batches später haben über 130 Teilnehmer das Programm absolviert und aus Lemmings heraus hat sich etwas noch größeres entwickelt: eine Community aus Menschen, die anders denken und an Probleme mit Lösungen herangehen. “Da entsteht so viel wertvolles, in dem Programm, bei dem Leute aus verschiedenen und komplementären Disziplinen acht Stunden oder länger an einem Projekt arbeiten. Da wird “next level”-Kreativität freigesetzt”, meint etwa Lena Traninger, die mittlerweile in Hamburg Analyst bei Accenture ist, und der ich es verdanke, von Lemmings erstmals gehört zu haben.

Kein CV notwendig

Kaum zu glauben – dachte ich mir damals-, dass sich still und heimlich in Wien ein Inkubatorprogramm entwickelt hat, das einige der besten Informatiker, Marketer, Designer, Journalisten und Kreativdenker, also Menschen mit Stärken in allen Richtungen, alleine durch Mundpropaganda erreicht und zu einer Community zusammen geschweißt hat. Menschen, die auf den ersten Blick nicht zwangsweise mit Artificial Intelligence zu tun haben. Das ist außergewöhnlich.

An den Lemmings-Wochenenden trifft man sich immer an neuen Locations. Hier im Bild: Die Verfasserin des Artikels, Theresa Sophie Breitsching, mit Stefan Paul Kernjak und Katrin Lachmann im Sektor5.

Im Herbst 2016 öffnete auch ich das Bewerbungsformular für Batch 2, um mich für das Winterprogramm 2017 zu bewerben. Und da fiel es mir erstmals auf. Die typischen CV-Fragen finden sich dort nicht. Ein Beispiel: “Is there a quote that transformed the way you think?”- und spätestens da, wurde mir dann auch klar, dass es bei Lemmings um etwas geht, das es noch nicht zuvor in Wien gegeben hat. Da geht es um einen selbst, als Teil von etwas Größeren- also irgendwie auch gar nicht um einen selbst.

Ein Mix aus Zombies, Alien und Star Trek

Die Teilnehmer, auch “Lemminge” genannt, alle an sich spezielle, außergewöhnliche und smarte Kreative, vereint das “anders denken”, das “darüber hinaus denken”- oder dies zumindest zu versuchen. Nur so kann Lemmings auch funktionieren, denn es geht vor allem auch um die Challenge mit sich selbst und um das Vertreiben der Dämonen (“Ich kann das nicht”), die man mit sich und in der Gruppe bekämpft, um dann zusammen etwas entstehen zu lassen. Am Ende eines jeden Wochenendes des dreimonatigen Programms ist dann tatsächlich etwas entstanden: ein Gedanken-Projekt oder etwas, das man tatsächlich als “Produkt” gelten lassen kann- immer mit dem Fokus auf “Künstliche Intelligenz”/ Chatbots natürlich.

Die Challenges erstrecken sich von “Zombie-Apokalypse” zu “Alien-Invasion” oder “Star Trek”-Fantasien. Projekte, die auf den ersten Blick vielleicht nicht alltagstauglich erscheinen, aber bei näheren Hinsehen geht es genau darum eben auch nicht- sondern um das Denkmuster, das sich leicht auf jede Art von Projekt umlegen lässt. Daher sind seitdem auch viele Startup- und Chatbot-Projekte aus Lemmings heraus entstanden. Oder es haben sich auch einfach die richtigen Leute gefunden, die nun zusammen an etwas arbeiten. Ein paar Beispiele, die auch bereits im Brutkasten gefeatured wurden, sind Chatbird.io, ComicBot oder Artnapper.

Authentisch, organisch, Lemmings

Dass es Inkubatoren, die mit viel Herzblut und minimalster finanzieller Unterstützung betrieben werden, in Wien nicht unbedingt einfach haben, beweist das Ende einer der wichtigsten Inkubationsstätten, nämlich des Sektor5. Damit schließt mit November eine der wenigen authentischen Geburtsstätten der Wiener Startup-Szene seine Türen. Eine Lücke, die sich so schnell nicht schließen wird. Der Aufruf des Sektor5 Co-Founders und Managing Directors Yves Schulz, Lemmings zu unterstützen, damit der ursprüngliche Aufbau-Spirit der Szene nicht verlischt, ist daher wenig überraschend:

“Dieses Projekt ist wie unseres, eines der wenigen organisch wachsenden, das auch direkt von der Community betrieben wird. Durch Eure Unterstützung besteht definitiv die Hoffnung, dass es auch noch Bestand haben wird, wenn sich die, durch die jetzigen -unorganisch wachsenden- Projekte erstellten, Erwartungen nicht erfüllen werden.”

Anmeldungen für den 4. Lemmings Batch laufen bis 1. Jänner. Ein ausführliches Interview mit Thomas Schranz erscheint Anfang Dezember. 

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„KI wird sich verlieben können, aber keine Medikamente entwickeln“

Der gebürtige Österreicher Christoph Lengauer ist Mitgründer der US-Venture-Capital-Gesellschaft Curie.Bio, die über 1 Mrd. Dollar und über 30 Unternehmensbeteiligungen verwaltet. In einer Keynote in Wien gab er kürzlich Einblicke in die aktuelle Lage der Biotech-Branche und widmete sich der Frage, was Künstliche Intelligenz in der Medikamentenentwicklung leisten kann.
/artikel/christoph-lengauer-ki-medikamentenentwicklung
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Christoph Lengauer bei seiner Keynote
Christoph Lengauer bei seiner Keynote | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Wie steht es um die Biotech-Branche, warum ist die Kapitalbeschaffung derzeit so schwierig, und welche Rolle kann Künstliche Intelligenz (KI) bei der Entdeckung von Medikamenten spielen? Genau diesen Fragen widmete sich der Biotech-Unternehmer und Investor Christoph Lengauer in einer Keynote des von Biotech Austria in der Säulenhalle der Wiener Börse veranstalteten vierten “Biotech Circle Austria”.

Lengauer gilt als „Drug Hunter“: Er forschte als Associate Professor  am renommierten Vogelstein-Labor der Johns Hopkins University, wo er mehrere „Cancer Driver“-Gene mitidentifizierte, die heute wichtige Angriffspunkte für Krebstherapien bilden. Anschließend leitete er Wirkstoffforschungsabteilungen bei Sanofi und Novartis, bevor er selbst Biotech-Unternehmen wie Blueprint Medicines, Thrive, Celsius Therapeutics und MOMA Therapeutics mitgründete. 

2022 war er dann Co-Founder von Curie.Bio – einer Venture-Capital-Gesellschaft, die in therapeutikorientierte Startups investiert und insgesamt über 1 Mrd. US-Dollar an Investorengeldern eingesammelt hat. Aktuell umfasst das Portfolio von Curie.Bio über 30 Unternehmensbeteiligungen.

„Diese Zeiten sind nicht leicht“ – die Lage der Branche

Christoph Lengauer bei seiner Keynote
Christoph Lengauer | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

In seiner Keynote sprach Lengauer von einer “hässlichen Zeit”, die die Biotech-Branche aktuell erlebe. Zahlreiche börsennotierte Biotech-Firmen verfügen zwar noch über hohe Barreserven, würden jedoch am Aktienmarkt unter ihrem Kassenbestand bewertet. Nach den Hochphasen der Jahre 2020 und 2021 – mit jeweils über 70 Biotech-IPOs allein in den USA – ist das Zeitfenster für Börsengänge praktisch geschlossen. Für Investoren bedeutet das: keine Exits, große Zurückhaltung bei Neuinvestitionen und schwierige Finanzierungsrunden für die Branche.

Zusätzlich spiegele sich die Krise an konkreten Beispielen wie Moderna: Dieser ehemals gefeierte „Star“ notiert rund 90 Prozent unter dem historischen Höchstkurs. Andere Hoffnungsträger wie Ginkgo oder Editas stehen sogar bei Kursverlusten von weit über 90 %. Zusammenfassend urteilt Lengauer: „Das ist brutal für die Branche und schreckt Investoren natürlich ab.“

Die Unwägbarkeiten der Wirkstoffforschung

Dass Biotech kein simples Investitionsfeld ist, liegt in der Natur der Sache. Laut Lengauer ist Wirkstoffentwicklung „einen Schritt entfernt von unmöglich“. Von 100 Projekten in der präklinischen Forschung schafft es im Durchschnitt nur eines in die klinische Phase. Und selbst dann erreichen nur etwa 1–2 dieser Kandidaten am Ende die Marktzulassung.

Dieser enormen Risikolage steht ein hoher Kapitalbedarf gegenüber. Ein einzelner Entwicklungskandidat kostet Unternehmen rund 80 Millionen US-Dollar bis zur Phase , in der er überhaupt erst im Menschen getestet werden kann. Währenddessen sind Me-too-Entwicklungen in Ländern wie China laut Lengauer erheblich günstiger zu realisieren. „Wir sind hier oft zehnmal teurer – das macht uns unheimlich zu schaffen“, betont er.

Investoren und das Dilemma der Rendite

Trotz einer langanhaltend starken Innovationskraft sind Biotech-Investitionen aus rein finanzieller Perspektive schwierig. Lengauer rechnete vor, dass selbst bei sehr optimistischen Erfolgsquoten die Renditeerwartungen gerade einmal auf ein ausgeglichenes Niveau kommen. Für Investorinnen und Investoren, die in kurzer Zeit Gewinne maximieren wollen, ist das Feld somit weniger attraktiv. 

Dennoch gebe es gute Gründe für ein Engagement: Innovationen, die das Leben von Patientinnen und Patienten konkret verbessern.

Fixkosten runter, Erfolgschancen steigern

Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse
Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Um überhaupt eine Chance zu haben, empfiehlt Lengauer eine drastische Senkung der Fixkosten. Größere Biotech-Startups, die bereits nach einem Jahr ein volles Leitungsteam inklusive Personalchef und Rechtsabteilung vorhalten, bezeichnet er als „rezeptpflichtig fürs Scheitern“. 

Stattdessen plädiert er für maximale Flexibilität: Vieles könne heute über externe Dienstleister abgebildet werden, sodass Unternehmen im Zweifel rasch das Budget umschichten können. So sinkt das finanzielle Risiko gerade in der sensiblen Frühphase, in der Investorengelder teuer und knapp sind. 

KI als Schlüssel zur Effizienz – aber mit Grenzen

Der fünfte und letzte Schwerpunkt der Keynote lag auf der Künstlichen Intelligenz. Lengauer wies zunächst auf den historischen Ursprung des Begriffs hin – eine Maschine, die menschliche Intelligenz imitiert–, und beleuchtete, die in der Wirkstoffentwicklung gängige, Ausrichtung auf Machine Learning. Entscheidend sei die Qualität und Tiefe der verfügbaren Daten. „Ohne ausreichendes Trainingsmaterial kann die beste KI nur mittelmäßige Ergebnisse liefern“, so Lengauer.

Als Paradebeispiel führte er das von dem Google-Tochterunternehmen DeepMind entwickelte KI-System AlphaFold an, das mithilfe riesiger öffentlich verfügbarer Datenmengen Proteinstrukturen erstaunlich präzise vorhersagen kann. Dieser Durchbruch in der Strukturbiologie habe die Forschung und frühe Phase der Medikamentenentwicklung immens beschleunigt und demokratisiert, denn AlphaFold-Daten sind für jede und jeden zugänglich. Dennoch komme es auf die richtige Interpretation an: Proteine bewegen sich in der Realität, und für solch komplexe dynamische Prozesse müssten Modelle erst noch reifen.

De-novo-Wirkstoffforschung durch KI – also vollkommen neue Moleküle, die der Mensch so nie entworfen hat – bleibe bislang ein Versprechen, das noch nicht in Form echter zugelassener Arzneimittel eingelöst wurde. KI könne zwar in Sekundenschnelle potenziell vielversprechende Moleküle generieren, doch zahlreiche Faktoren wie Toxizität, Löslichkeit und Wirksamkeit im Körper erforderten weiterhin ein enormes Maß an empirischem Wissen und experimenteller Bestätigung.

„Glaube nicht, dass KI in der Lage sein wird, ein Medikament zu entwickeln“

Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse
Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Was die Entwicklung von Medikamenten angeht, bleibt Lengauer daher zurückhaltend: “Ich glaube, dass KI weinen können wird, dass sie sich verlieben können wird. Ich glaube nicht, dass sie in der Lage sein wird, ein Medikament zu entwickeln.” Denn Medikamentenentwicklung sei “ein Wunder”.

Im Gespräch mit brutkasten führte Lengauer den Gedanken aus: Medikamentenentwicklung habe „eine enorme Komplexität”. Es sei vorstellbar, dass KI physiologische Prozesse reproduzieren könne, aber die Frage dabei sei immer, in welcher Größenordnung sich das zu lösende Problem bewege. Medikamentenentwicklung liege “am extremen Spektrum dieser Komplexität”. 

Gleichzeitig stehe es aber außer Frage, dass Künstliche Intelligenz bestimmte Schritte in der Wirkstoffentwicklung beschleunigen und verbessern werde. “Aber der schwierige Teil ist das De-novo-Design – man kann es auch ‘Ideation’ nennen, dieser geniale Aha-Moment”, erläutert Lengauer. “Und da hat KI im Bereich der Medikamentenentwicklung bislang noch nicht viel erreicht.” Sie ist zwar sehr hilfreich für viele Teilschritte, aber eben nicht in diesem kreativen Erfindungsprozess.

Nase für Wert: Erfolgsfaktor Mensch bleibt

Christoph Lengauer und Biotech-Austria-Präsient Peter Llewellyn-Davies
Christoph Lengauer und Biotech-Austria-Präsient Peter Llewellyn-Davies | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Somit bleibt der Mensch der entscheidende Faktor. In seiner Keynote zog Lengauer eine Analogie zum Fußball: „Lewandowski steht immer an der richtigen Stelle – wie Messi früher. Warum?“ Sein Fazit: Ein gewisses Bauchgefühl, Erfahrung und Intuition bleiben trotz aller Daten und Algorithmen entscheidend. So wie ein exzellenter Stürmer antizipiert, wo der Ball landen wird, so brauchen Biotech-Projekte Führungspersonen mit einem „Riecher für Wert“.

Gerade junge Talente sollten laut Lengauer die Nähe zu solchen erfahrenen Akteuren suchen. Dann erst seien sie in der Lage, langfristig selbst zu jenen Menschen zu werden, die die Branche prägen und große Erfolge feiern.

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Christoph Lengauer bei seiner Keynote
Christoph Lengauer bei seiner Keynote | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Wie steht es um die Biotech-Branche, warum ist die Kapitalbeschaffung derzeit so schwierig, und welche Rolle kann Künstliche Intelligenz (KI) bei der Entdeckung von Medikamenten spielen? Genau diesen Fragen widmete sich der Biotech-Unternehmer und Investor Christoph Lengauer in einer Keynote des von Biotech Austria in der Säulenhalle der Wiener Börse veranstalteten vierten “Biotech Circle Austria”.

Lengauer gilt als „Drug Hunter“: Er forschte als Associate Professor  am renommierten Vogelstein-Labor der Johns Hopkins University, wo er mehrere „Cancer Driver“-Gene mitidentifizierte, die heute wichtige Angriffspunkte für Krebstherapien bilden. Anschließend leitete er Wirkstoffforschungsabteilungen bei Sanofi und Novartis, bevor er selbst Biotech-Unternehmen wie Blueprint Medicines, Thrive, Celsius Therapeutics und MOMA Therapeutics mitgründete. 

2022 war er dann Co-Founder von Curie.Bio – einer Venture-Capital-Gesellschaft, die in therapeutikorientierte Startups investiert und insgesamt über 1 Mrd. US-Dollar an Investorengeldern eingesammelt hat. Aktuell umfasst das Portfolio von Curie.Bio über 30 Unternehmensbeteiligungen.

„Diese Zeiten sind nicht leicht“ – die Lage der Branche

Christoph Lengauer bei seiner Keynote
Christoph Lengauer | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

In seiner Keynote sprach Lengauer von einer “hässlichen Zeit”, die die Biotech-Branche aktuell erlebe. Zahlreiche börsennotierte Biotech-Firmen verfügen zwar noch über hohe Barreserven, würden jedoch am Aktienmarkt unter ihrem Kassenbestand bewertet. Nach den Hochphasen der Jahre 2020 und 2021 – mit jeweils über 70 Biotech-IPOs allein in den USA – ist das Zeitfenster für Börsengänge praktisch geschlossen. Für Investoren bedeutet das: keine Exits, große Zurückhaltung bei Neuinvestitionen und schwierige Finanzierungsrunden für die Branche.

Zusätzlich spiegele sich die Krise an konkreten Beispielen wie Moderna: Dieser ehemals gefeierte „Star“ notiert rund 90 Prozent unter dem historischen Höchstkurs. Andere Hoffnungsträger wie Ginkgo oder Editas stehen sogar bei Kursverlusten von weit über 90 %. Zusammenfassend urteilt Lengauer: „Das ist brutal für die Branche und schreckt Investoren natürlich ab.“

Die Unwägbarkeiten der Wirkstoffforschung

Dass Biotech kein simples Investitionsfeld ist, liegt in der Natur der Sache. Laut Lengauer ist Wirkstoffentwicklung „einen Schritt entfernt von unmöglich“. Von 100 Projekten in der präklinischen Forschung schafft es im Durchschnitt nur eines in die klinische Phase. Und selbst dann erreichen nur etwa 1–2 dieser Kandidaten am Ende die Marktzulassung.

Dieser enormen Risikolage steht ein hoher Kapitalbedarf gegenüber. Ein einzelner Entwicklungskandidat kostet Unternehmen rund 80 Millionen US-Dollar bis zur Phase , in der er überhaupt erst im Menschen getestet werden kann. Währenddessen sind Me-too-Entwicklungen in Ländern wie China laut Lengauer erheblich günstiger zu realisieren. „Wir sind hier oft zehnmal teurer – das macht uns unheimlich zu schaffen“, betont er.

Investoren und das Dilemma der Rendite

Trotz einer langanhaltend starken Innovationskraft sind Biotech-Investitionen aus rein finanzieller Perspektive schwierig. Lengauer rechnete vor, dass selbst bei sehr optimistischen Erfolgsquoten die Renditeerwartungen gerade einmal auf ein ausgeglichenes Niveau kommen. Für Investorinnen und Investoren, die in kurzer Zeit Gewinne maximieren wollen, ist das Feld somit weniger attraktiv. 

Dennoch gebe es gute Gründe für ein Engagement: Innovationen, die das Leben von Patientinnen und Patienten konkret verbessern.

Fixkosten runter, Erfolgschancen steigern

Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse
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Stattdessen plädiert er für maximale Flexibilität: Vieles könne heute über externe Dienstleister abgebildet werden, sodass Unternehmen im Zweifel rasch das Budget umschichten können. So sinkt das finanzielle Risiko gerade in der sensiblen Frühphase, in der Investorengelder teuer und knapp sind. 

KI als Schlüssel zur Effizienz – aber mit Grenzen

Der fünfte und letzte Schwerpunkt der Keynote lag auf der Künstlichen Intelligenz. Lengauer wies zunächst auf den historischen Ursprung des Begriffs hin – eine Maschine, die menschliche Intelligenz imitiert–, und beleuchtete, die in der Wirkstoffentwicklung gängige, Ausrichtung auf Machine Learning. Entscheidend sei die Qualität und Tiefe der verfügbaren Daten. „Ohne ausreichendes Trainingsmaterial kann die beste KI nur mittelmäßige Ergebnisse liefern“, so Lengauer.

Als Paradebeispiel führte er das von dem Google-Tochterunternehmen DeepMind entwickelte KI-System AlphaFold an, das mithilfe riesiger öffentlich verfügbarer Datenmengen Proteinstrukturen erstaunlich präzise vorhersagen kann. Dieser Durchbruch in der Strukturbiologie habe die Forschung und frühe Phase der Medikamentenentwicklung immens beschleunigt und demokratisiert, denn AlphaFold-Daten sind für jede und jeden zugänglich. Dennoch komme es auf die richtige Interpretation an: Proteine bewegen sich in der Realität, und für solch komplexe dynamische Prozesse müssten Modelle erst noch reifen.

De-novo-Wirkstoffforschung durch KI – also vollkommen neue Moleküle, die der Mensch so nie entworfen hat – bleibe bislang ein Versprechen, das noch nicht in Form echter zugelassener Arzneimittel eingelöst wurde. KI könne zwar in Sekundenschnelle potenziell vielversprechende Moleküle generieren, doch zahlreiche Faktoren wie Toxizität, Löslichkeit und Wirksamkeit im Körper erforderten weiterhin ein enormes Maß an empirischem Wissen und experimenteller Bestätigung.

„Glaube nicht, dass KI in der Lage sein wird, ein Medikament zu entwickeln“

Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse
Christoph Lengauer in der Säulenhalle der Wiener Börse | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Was die Entwicklung von Medikamenten angeht, bleibt Lengauer daher zurückhaltend: “Ich glaube, dass KI weinen können wird, dass sie sich verlieben können wird. Ich glaube nicht, dass sie in der Lage sein wird, ein Medikament zu entwickeln.” Denn Medikamentenentwicklung sei “ein Wunder”.

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Gleichzeitig stehe es aber außer Frage, dass Künstliche Intelligenz bestimmte Schritte in der Wirkstoffentwicklung beschleunigen und verbessern werde. “Aber der schwierige Teil ist das De-novo-Design – man kann es auch ‘Ideation’ nennen, dieser geniale Aha-Moment”, erläutert Lengauer. “Und da hat KI im Bereich der Medikamentenentwicklung bislang noch nicht viel erreicht.” Sie ist zwar sehr hilfreich für viele Teilschritte, aber eben nicht in diesem kreativen Erfindungsprozess.

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Christoph Lengauer und Biotech-Austria-Präsient Peter Llewellyn-Davies
Christoph Lengauer und Biotech-Austria-Präsient Peter Llewellyn-Davies | Foto: BIOTECH AUSTRIA / Alexander Felten

Somit bleibt der Mensch der entscheidende Faktor. In seiner Keynote zog Lengauer eine Analogie zum Fußball: „Lewandowski steht immer an der richtigen Stelle – wie Messi früher. Warum?“ Sein Fazit: Ein gewisses Bauchgefühl, Erfahrung und Intuition bleiben trotz aller Daten und Algorithmen entscheidend. So wie ein exzellenter Stürmer antizipiert, wo der Ball landen wird, so brauchen Biotech-Projekte Führungspersonen mit einem „Riecher für Wert“.

Gerade junge Talente sollten laut Lengauer die Nähe zu solchen erfahrenen Akteuren suchen. Dann erst seien sie in der Lage, langfristig selbst zu jenen Menschen zu werden, die die Branche prägen und große Erfolge feiern.

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