24.07.2019

Warum Profitabilität im Silicon Valley anders gedacht wird

Im Gastbeitrag erklärt Innovationsberater, Autor und Silicon Valley-Experte Mario Herger, warum es mit der Profitabilität im Silicon Valley anders gehandhabt wird, als im DACH-Raum und warum genau das das Geheimnis von Google, Facebook, Airbnb und Co. ist.
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Warum Profitabilität bei Silicon Valley-Startups anders gedacht wird
(c) fotolia.com - peshkov

Die Profitabilität von Startups und Unternehmen des Silicon Valley ist für Menschen im DACH-Raum oft ein großes Mysterium. “Wie schaffen die das nur, dass sie so viel Geld verlieren und immer noch nicht Pleite sind?” Und: “Wir können es uns jedenfalls nicht leisten, immer nur Geld zu verlieren.” Oder: “Wir müssen kaufmännisch denken.”

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Also wie ist das jetzt mit der Profitabilität im Silicon Valley? Stimmt das, dass die Welt hier anders funktioniert und Unternehmen nicht gewinnorientiert arbeiten müssen?

Das stimmt natürlich nicht. Irgendwann muss jedes Unternehmen, das auf Dauer existieren will, Geld machen. Entweder macht man Geld indem Kunden für die Produkte und Dienstleistungen bezahlen, oder man macht Geld durch Werbeanzeigen. Aber es ist nicht in jeder Phase notwendig, und das aus bestimmten Gründen.

Die Silicon-Valley-Maschine

Das Silicon Valley ist die Region in Kalifornien zwischen San Francisco und San Jose, mit einer Luftlinie von weniger als 100 Kilometern. Dort leben nicht nur 3,5 Millionen Menschen, sondern es sind auch zu jedem Zeitpunkt geschätzte 60.000 Startups tätig, davon 30.000 Technologie-Startups. Davon überleben die meisten nicht das erste Jahr. Kein Wunder also, dass wir von denen nie etwas gehört haben. Das sind alles Startups, die nie Risikokapital aufstellen konnten oder ausreichend Geld verdienten, um weiterzumachen.

In der Silicon-Valley-Maschine werden Startups wie neue Projekte in Unternehmen gesehen. Viele werden angepackt, nur ein Teil von ihnen wird zu Ende gebracht, und noch viel weniger werden erfolgreich. Man sieht also schon: Auch hier gilt das “Naturgesetz”, dass Unternehmen Geld verdienen müssen um zu überleben.

Neue Märkte schaffen

Das war es aber auch schon mit den Ähnlichkeiten, die Silicon-Valley-Unternehmen mit jenen im Rest der Welt haben. Ein traditionelles Unternehmen, das ein Produkt auf den Markt bringt, analysiert diesen Markt, vergleicht sein Produkt mit anderen, positioniert es entsprechend, und versucht es mit bekannten Mitteln zu verkaufen. Kunden, Produkt und Profitmarge sind bekannt. Ob es sich besser oder schlechter verkauft, hängt dabei von vielen Fragen ab. Gibt es einen Marktfit, ist das Team dahinter gut, trifft man den Nerv der Zeit, stimmen Preis-Leistung und die Qualität, und gibt der Markt genug Potenzial her?

Startups im Silicon Valley unterscheiden sich davon insofern, als sie nicht diese bekannten Märkte angehen. Sie schaffen neue Märkte. Wer hätte sich vor 20 Jahren gedacht, dass es einen Bedarf für Videoverleih per Post gibt? Oder für Elektroautos? Oder für Alternativen zu Taxidiensten? Oder dass Leute ihre privaten Zimmer an Fremde vermieten würden wollen, und Fremde diese auch buchen?

Was uns rückbezüglich völlig klar erscheint, war es damals nicht. Genau auf diese Art von marktschaffenden Startups hat sich das Silicon Valley spezialisiert. Die ganze Maschinerie ist darauf eingestellt, alle Ressourcen bereitzustellen um solchen Unternehmen dabei zu helfen, neue Märkte zu schaffen.

Geschwindigkeit für Monopolisierung

Notwendig ist dabei eine hohe Geschwindigkeit. Das beginnt beim Ausprobieren der Idee. Wollen die Leute einen Service, mit dem sie eine Limousine per App bestellen können? Einfach, ohne viel zu zögern, ausprobieren und schnell zu lernen ist dabei das Gebot. Wie sich in diesem Beispiel vor einigen Jahren rasch herausstellte, waren die Leute daran nicht wirklich interessiert. Aber Taxis per Knopfdruck bestellen und dabei nicht mit Kreditkarten und Bargeld herumzuhantieren, das wollten sie.

Als Uber und Lyft, zwei Startups aus San Francisco das herausfanden, musste schnell gehandelt werden. Der Markt muss ohne Zögern besetzt und monopolisiert werden. Der Risikokapitalinvestor Peter Thiel beschreibt das in seinem Buch “Zero to One: Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet”. Wenn die Taktik aufgeht, dann ist das Unternehmen, dass es schafft den vorher nicht bedienten Markt zu erschließen, dann hat es den unfairen Vorteil, diesen Markt zu monopolisieren. Jedes Unternehmen, das danach kommt und auch in diesen Markt dringt, bekommt nur mehr die Krummen ab.

Erlöspotenzial vor Cashflow

Dazu muss Geld in die Hand genommen werden. Nicht was bisher verdient wurde und wie der aktuelle Cashflow aussieht ist dabei wichtig, sondern was das zukünftige Erlöspotenzial sein könnte – die potenzielle Profitabilität. Und die Investoren waren bereit, Geld – sehr viel Geld – bereitzustellen. Zwanzig Milliarden an Risikokapital hatte Uber bis zum Börsegang 2019 aufgestellt und dabei jedes Quartal zwischen ein und zwei Milliarden Dollar Verlust gemacht. Im ersten Quartal 2019 stand den Erlösen von drei Milliarden Dollar ein Verlust von einer Milliarde Dollar gegenüber.

Der Elektroautohersteller Tesla wiederum hattte bislang gerade mal eine Handvoll Quartale, in denen das Unternehmen positiv bilanzierte. Und trotzdem ist es an der Börse mehr Wert als General Motors, Ford, Daimler oder BMW – alles Unternehmen die solide Gewinne ausweisen.

Supermoney: Nicht jeden Cent umdrehen

Wie einfach es für Unternehmen wie Tesla ist, Geld aufzustellen, zeigte sich vor ein paar Monaten, als Tesla-Chef Elon Musk ankündigte, noch eine Kapitalspritze von zwei Milliarden Dollar aufnehmen zu müssen und binnen Tagen 2,73 Milliarden Dollar einsammelte.

Dieses Geld von professionellen Risikokapitalinvestoren wird im Silicon Valley gerne “Supermoney” genannt. Die Investoren wissen, dass sie in dieser Phase des Unternehmens nicht jeden Cent umdrehen können, sondern dass das Unternehmen den Markt und die Infrastruktur schaffen muss, um den Markt zu bedienen. Wenn es keine Ladestationen für mein neues Produkt Elektroauto gibt, muss man ein Ladestationsnetzwerk bauen. Wenn es keine Batterien für meine Elektroautos in ausreichender Menge und Qualität gibt, muss man eine Batteriefabrik dafür bauen. Am Ende des Tages stehen eine proprietäre Infrastruktur für die Produkte und Dienstleistungen bereit, die den Markteintritt der Nachzügler verzögern und verteuern.

Diese Vorgehensweise ist nichts Neues. Die beste Glühbirne hätte Edison nicht viel geholfen, wenn er nicht auch den Strom dazu geliefert hätte. Das war das große Wettrennen vor über hundert Jahren. Kraftwerke wiederum, die ihre Kunden zu Stromverbrauch anregen wollten, mussten Stromverbrauchende Geräte anbieten. So hatten etwa auch hierzulande die Vorarlberger Kraftwerke mit Elektra Bregenz einen Hersteller von Haushaltsgeräten in Symbiose.

Die “Lizenz zum Gelddrucken”

Wenn das gelingt – und das Wenn ist dabei großgeschrieben und unsicher – dann ist der monopolisierte Markt fast schon eine “Lizenz zum Gelddrucken”. Welchen Konkurrenten bei Suchmaschinen und Online-Werbung gibt es neben Google noch? Welchen bei der Online-Vermietung von Zimmern neben Airbnb? Welches professionelle Netzwerk neben LinkedIn hat globale Relevanz? Und welche soziale Plattform hat Facebook in der westlichen Welt als ernstzunehmende Konkurrenz?

Diese Unternehmen sind aus der Phase des massiven Geldverbrennens heraus, während Tesla, Uber oder Lyft sich noch darin befinden, und scheinbar auf dem Weg sind, in die nächste Phase zu treten.

Selbst dort, wo sich mehrere Unternehmen neue Märkte teilen, sind vorher ungeahnte Erlösmöglichkeiten vorhanden. Netflix, Amazon und Apple schwimmen mit ihren Streamingplattformen dermaßen in Geld, dass Hollywood Produzenten und Filmstudios fast keine Chance mehr haben, bei begehrten Rechten mitbieten zu können.

Profitabilität: Den langen Atem bewahren

Die Frage nach der Profitabilität von Silicon-Valley-Unternehmen und ob für sie andere Regeln gelten, ist damit geklärt. Die Naturgesetze gelten auch für sie. Der Großteil der Startups überlebt das erste Jahr nicht. Einige wenige erhalten Risikokapital, und noch viel weniger halten sich mehrere Jahre. Doch hier gilt es für alle Beteiligten, den langen Atem zu bewahren. Denn denjenigen, die es schaffen, winken phantastische Gewinnaussichten.


PS.: Der Mythos von der deutschen kaufmännischen Sorgfalt

Deutsche Automobilhersteller sticheln gerne gegen Tesla und weisen auf die Verluste hin, die der kalifornische Konkurrent macht. Die BMW-, Daimler– und VW-Vorstände hingegen brüsten sich mit ihrer kaufmännischen Sorgfalt und der Verantwortung, die sie für die Aktionäre und die Belegschaft tragen.

Dieser Hinweis auf die kaufmännische Sorgfalt kommt dabei nicht aus einer Position der Stärke. Die Anzahl und der Abstand der Gewinnwarnungen deutscher Automobilhersteller in den letzten Monaten war erstaunlich. Abgas- und Preisabspracheskandale plagen die Firmen. Das Vorstandskarussell dreht sich immer schneller und nun stehen auch Tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel.

Während Tesla bislang (wieviel?) Geld verloren hat (vielleicht fünf Milliarden oder sind es doch sieben?) und Google für Waymo, das ein selbstfahrendes Auto entwickelt, vermutlich die gleiche Summe ausgegeben hat, hat alleine Volkswagen 29 Milliarden Dollar an Strafzahlungen für den Dieselskandal aufwenden müssen. Um dieses Geld hätte man zweimal Waymo und zweimal Tesla machen können. Die deutsche Automobilzukunft würde damit nicht nur anders, sondern glänzend aussehen – und die Profitabilität wäre auch für die Zukunft gewahrt.

Uns da mit “kaufmännischer Sorgfalt” der Deutschen kommen zu wollen, grenzt schon an eine kaum mehr zu überbietende Frechheit.

⇒ Zum Blog von Gastautor Mario Herger

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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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