10.06.2021

Morpher-Gründer Fröhler: So wird DeFi die Finanzbranche revolutionieren

Die Kryptobranche und die traditionelle Finanzwelt nähern sich einander zunehmend an. Doch es gibt eine Bewegung, der das nicht genug ist – sie will das Finanzsystem komplett auf den Kopf stellen: Decentralized Finance, kurz DeFi. Mittendrin: das Wiener Unternehmen Morpher rund um CEO Martin Fröhler.
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Morpher-CEO Martin Fröhler
Morpher-CEO Martin Fröhler | © brutkasten/Schauer-Burkart
Dieser Artikel erschien zuerst im brutkasten-Magazin #12 (05/21).

Fürchtet sich das etablierte Finanzsystem noch vor Bitcoin? Etwas hat sich jedenfalls verändert in den vergangenen Jahren. Lange hatten viele Branchenvertreter die Kryptowährung nicht ernst genommen. Bitcoin sei ein „Betrug“, der „nicht gut ausgehen wird“, hatte etwa Jamie Dimon 2017 gesagt, immerhin der Chef von JP Morgan, der größten Bank der USA. Jeden Trader der Bank, der mit der Kryptowährung handle, würde er sofort feuern, so Dimon weiter.

Heute ist er noch immer CEO der Großbank, aber diese arbeitet mittlerweile daran, einen eigenen Bitcoin-Fonds aufzulegen. Und das ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel: Morgan Stanley bietet vermögenden Kunden Bitcoin-Fonds an, Citi denkt darüber nach, Goldman Sachs hat einen Tradingdesk für Kryptowährungen gestartet. Das für seine Aktienindizes bekannte Unternehmen S&P Dow Jones kündigte eigene Indizes für Kryptowährungen an. Der Bezahldienst PayPal wiederum unterstützt in den USA Zahlungen mit Kryptowährungen, und sowohl Visa als auch Mastercard experimentieren in dem Bereich. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Auf der anderen Seite nähern sich Kryptounternehmen der traditionellen Finanzwelt an. Die größte US-Kryptobörse Coinbase etwa ging im April selbst an die Börse – und zwar an eine traditionelle: die auf Tech-Aktien spezialisierte Nasdaq. Auch scheinen traditionelle Assetklassen für manche aus der Kryptobranche zunehmend interessant: So ermöglicht etwa das als Kryptobroker groß gewordene Wiener Fintech Bitpanda seinen Usern seit April, in Aktien und ETFs zu investieren. Auch die weltgrößte Kryptobörse Binance hat kürzlich erste tokenisierte Aktien in ihr Angebot aufgenommen. Vieles deutet also auf eine Verschmelzung der beiden Welten hin.

DeFi will Finanzwelt auf den Kopf stellen

Allerdings gibt es eine Bewegung innerhalb der Kryptowelt, der das nicht genug ist – und die gleich die gesamte Finanzwelt auf den Kopf stellen will. Der Name dieser Bewegung: Decentralized Finance, kurz DeFi. Mittendrin ist auch ein Unternehmen aus Wien: das 2018 gegründete Start-up Morpher rund um CEO Martin Fröhler.

Dieser hat nicht den geringsten Zweifel, dass DeFi die Finanzwelt von Grund auf umkrempeln wird: „Es ist eine Industrie, die gerade im Entstehen ist. Da gibt es so viele Möglichkeiten, und das wird die Finanzwelt revolutionieren in den nächsten zehn Jahren, auf eine Art und Weise, wie man es sich heute noch gar nicht vorstellen kann“, sagt Fröhler im Interview mit dem brutkasten.

DeFi sei die „vielleicht wichtigste Bewegung innerhalb von Krypto“, führt der Morpher-Gründer weiter aus. Die ersten Kryptoprotokolle – also Bitcoin und Ethereum – hätten noch versucht, Geld zu sein; ein Transaktionsmedium. Mit DeFi sei aber eine weitere Ebene dazugekommen: Eine gesamte globale dezentrale Finanzinfrastruktur soll aufgebaut werden, die nicht von individuellen Akteuren abhängt. Mittelsmänner – wie Banken und Broker – werden durch automatisierte Protokolle, Smart Contracts genannt, ersetzt. „So fallen sehr viele Gebühren weg, denn die Finanzindustrie besteht eigentlich nur aus Mittelsmännern“, sagt Fröhler.

Zweite Welle an DeFi-Projekten

Im Sommer des Vorjahrs kam es zu einem ersten kleinen Hype um DeFi. Der Schwerpunkt der damaligen Projekte: dezentrale Kreditvergabe – vergleichsweise einfache Anwendungen, bei denen es um den Verleih von Kryptowährungen ging. Die Euphorie ebbte wieder ab. In den vergangenen Monaten kam es nun zu einer neuen Welle von DeFi-Projekten: „Jetzt entsteht die Generation der Broker und der Börsen auf DeFi, die reale Assets nachbildet“, sagt Fröhler. Vergleiche man dies mit dem etablierten Finanzsystem, sei die erste DeFi-Welle so etwas gewesen wie die US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac. Jetzt komme aber der nächste Schritt: „Es wird der Aktienmarkt gespiegelt, es wird der Kryptomarkt gespiegelt, es wird die ganze Trading- und Investmentinfrastruktur kommen“, erläutert Fröhler. Sein Unternehmen Morpher ist ein Teil davon.

600 Assets auf Morpher-Plattform

Was macht das Startup genau? Zunächst einmal ist Morpher eine Tradingplattform. Auf dieser können über 600 Assets (von Aktien über Rohstoffe und Kryptowährungen bis hin zu Devisen) gehandelt werden. Oder genauer gesagt: virtuelle Kopien dieser Assets. Das Morpher-Protokoll überwacht die Preisentwicklung der Assets und repliziert sie auf der Blockchain. „Der größte Vorteil für den User ist, dass es erstmals keine Gegenpartei gibt“, erläutert Fröhler. Normalerweise könne man an einer Börse nur so viele Aktien kaufen, wie jemand verkaufen möchte. Zudem sei man auf Broker und Börsen angewiesen, die ebenfalls Geld verdienen wollen. „Unser Protokoll ist der Ersatz für die Gegenpartei. User handeln mit unendlicher Liquidität, jede Order wird sofort akzeptiert, ohne dass der darunterliegende Markt beeinflusst wird“, führt Fröhler weiter aus.

Praktisch funktioniert das so: Anleger können über den eigenen Morpher-Token auf die Kursentwicklung von Assets setzen. Wettet ein Anleger etwa auf einen fünfprozentigen Kursanstieg der Tesla-Aktie und setzt 1.000 Morpher-Token, werden diese zu 1.050 Morpher-Token, wenn die Wette aufgeht. Sinkt der Kurs dagegen beispielsweise um fünf Prozent, verliert er Token und sein Bestand schrumpft auf 1.950 Morpher-Token. Das Protokoll schafft und zerstört Token – je nach Handelserfolg.

Wie verdient Morpher dabei Geld? „Unser Geschäftsmodell ist vergleichbar mit dem anderer Kryptoprotokolle. Wir erzeugen neue Token, die von uns dann in den Markt hineinverkauft werden“, erläutert Fröhler. Das ist analog zum Geschäftsmodell von Minern bei anderen Blockchains: Bei Bitcoin verifizieren Miner die Richtigkeit einer Transaktion, indem sie komplexe Rechenaufgaben durchführen – und erhalten dafür als Belohnung Bitcoin. Bei Morpher wiederum wird jährlich eine bestimmte Menge an Token geschöpft und an Trader verkauft – die diese brauchen, um auf der Plattform handeln zu können.

Aktuell 59 Mrd. Dollar in DeFi-Anwendungen auf Ethereum-Blockchain

Außerhalb des Morpher-Systems wird der Token außerdem auf zwei Kryptobörsen gehandelt – eine davon ist der dezentrale Handelsplatz Uniswap, eines der bekanntesten DeFi-Projekte. Auf diesem sind zahlreiche Token verfügbar, die – wie jener von Morpher – auf der Ethereum-Blockchain basieren. Uniswap hat auch einen eigenen Token, UNI. Mit einer Marktkapitalisierung von derzeit rund 15 Mrd. US-Dollar gehört dieser bereits jetzt zu den 15 größten Kryptowährungen der Welt. Laut Zahlen des Analyseunternehmens Dune Analytics haben dezentrale Börsen im Mai 2021 ein Handelsvolumen von über 140 Mrd. Dollar abgewickelt – dreimal so viel wie noch vor einem halben Jahr.

DeFi ist aber mehr als nur Börsenhandel: Die Datenplattform DeFi Pulse schätzt, dass aktuell rund 59 Mrd. Dollar in Smart Contracts von dezentralen Finanzanwendungen auf der Ethereum-Blockchain liegen. Ein Massenphänomen ist DeFi damit noch nicht: In einer weiteren Studie identifizierte das Blockchain-Unternehmen ConsenSys für Ende März 2021 rund 1,75 Mio. Nutzer von Ethereum-basierten DeFi-Anwendungen. Die Zahl hat sich damit innerhalb eines Jahres verzehnfacht.

Ökonom sieht bei DeFi noch einige kritische Punkte

Auch Zentralbanken verfolgen das Phänomen mittlerweile. Der Ableger der US-Notenbank Federal Reserve in St. Louis etwa hat Anfang Mai ein Paper des Ökonomen Fabian Schär von der Universität Basel in seinem wissenschaftlichen Journal wiederveröffentlicht. Schär schreibt darin, dass DeFi „bestehende Finanzdienstleistungen auf eine offenere und transparentere Art“ repliziere. Vereinbarungen würden über Code durchgesetzt, Transaktionen auf eine sichere, verifizierbare Art umgesetzt und legitime Veränderungen eines Zustands über eine öffentliche Blockchain fortgeschrieben. Gleichzeitig sieht der Wissenschaftler aber noch einige kritische Punkte: Smart Contracts könnten beispielsweise Sicherheitslücken aufweisen.

Außerdem könnten Skalierungsprobleme die Anzahl der User beschränken. Der Begriff „dezentralisiert“ sei außerdem in einigen Fällen irreführend: Manche Protokolle würden externe Datenquellen nutzen, bestimmte Administratorenrechte zum Managen des Systems verwenden oder gelegentlich sogar Notfallabschaltungen des Systems durchführen. „Obwohl das nicht unbedingt ein Problem darstellt, sollte Usern bewusst sein, dass in vielen Fällen viel Vertrauen involviert ist“, schreibt Schär. Allerdings: Wenn diese Probleme gelöst werden, könnte DeFi seiner Ansicht nach zu einem „Paradigmenwechsel in der Finanzbranche und potenziell zu einer robusteren, offeneren und transparenteren Finanzinfrastruktur führen“.

Morpher-CEO: “Trading oft unfair und teuer”

Morpher-CEO Martin Fröhler
Morpher-CEO Martin Fröhler beim brutkasten-Interview im 2. Bezirk in Wien | © brutkasten/Schauer-Burkart

Dass dies die traditionelle Finanzbranche nötig hat, davon ist Morpher-CEO Fröhler überzeugt – und er kennt sie aus langjähriger eigener Erfahrung. Seit seinem 16. Lebensjahr investiert er in Aktien. Nach seinem Studium der Technischen Mathematik in Wien schlug er eine Karriere in der Finanzbranche ein und entwickelte als Analyst Trading-Algorithmen. Später ging er in die Schweiz, dann in die USA, wo er einen dezentralen Hedgefonds aufbaute. Trotz – oder gerade wegen – seiner langjährigen Erfahrung an den Finanzmärkten sagt Fröhler: „Trading ist oft unfair und teuer.“ Als Privatanleger habe man oft Probleme, sein Portfolio ausreichend zu diversifizieren. Viele Finanzprodukte seien für Kleinanleger nicht zugänglich – selbst, wenn sie das nötige Wissen dafür haben. In manchen Märkten gebe es Minimuminvestments, um überhaupt daran teilnehmen zu können. In anderen müsse man überhaupt erst ein akkreditierter Investor sein. „Das Spielfeld ist zugunsten der Großinvestoren gestaltet“, schlussfolgert er.

Zwei Investmentrunden zu je 1,25 Mio. Dollar

Morpher stellt für sich den Anspruch, dies zu ändern. Gegründet hat Fröhler das Unternehmen gemeinsam mit Denis Bykov, einem früheren Produktmanager bei Apple. Die beiden Co-Founder lernten sich beim StartX Accelerator der Universität Stanford kennen. Fröhler hatte an diesem mit seinem vorigen Unternehmen teilgenommen. Noch in den USA gründeten sie 2018 Morpher, dann ging es weiter nach Wien. Gleich zu Beginn konnten sich die beiden Gründer von Investoren eine 1,25 Mio. Dollar schwere Seed-Runde sichern – unter den Investoren war Tim Draper, der zuvor unter anderem bei Tesla, Coinbase oder Robinhood investiert hatte.

„Wir waren damals nur zwei Gründer mit einer Idee und hatten sonst noch nichts“, sagt der Morpher-CEO. 2020 folgte eine weitere Investmentrunde, erneut in der Höhe von 1,25 Mio. Dollar. Draper war wieder an Bord. Auch der Wiener VC Apex beteiligte sich. Derzeit laufen Gespräche zu einer weiteren Finanzierungsrunde. Vergangenen Sommer startete die Morpher-Tradingplattform offiziell. Heute hat Morpher 24.000 aktive Nutzer; 4.500 davon sind täglich, 15.000 wöchentlich und 30.000 monatlich aktiv. „Das Wachstum basiert rein auf Empfehlungen“, sagt Fröhler.

Anspruch von Morpher: Börsenhandel öffnen

Er formuliert den Anspruch von Morpher so: „Wir wollen den Börsenhandel öffnen und für jeden auf der Welt demokratisieren. Nur 20 Prozent der Weltbevölkerung sind in der privilegierten Situation, Zugriff auf die Finanzmärkte zu haben. Viele in Südamerika, Afrika, Teilen Asiens und Europas sind ausgeschlossen.“ Diesen Zugriff zu haben ist aber nach Meinung Fröhlers mittlerweile essenziell; durchaus auch in Mitteleuropa, wo es ihn grundsätzlich gibt, er aber von vielen nicht wahrgenommen wird: „In Zeiten wie diesen, in denen die Zinssätze bei null sind, ist eigentlich jeder in der global verordneten Armutsfalle“, so Fröhler. Wenn man Geld auf ein Sparbuch lege, verliere man pro Jahr zwei bis drei Prozent. Berücksichtige man Häuser- und Wohnungspreise, sei die Inflationsrate noch wesentlich höher.

„Alle, die jetzt im Erwerbsleben stehen, haben kaum mehr eine Möglichkeit, sich etwas aufzubauen“, sagt der Morpher-Gründer. Mit einem normalen Erwerbseinkommen in Österreich könne man eine 70-Quadratmeter-Eigentumswohnung in Wien wahrscheinlich erst kurz vor der Pension abbezahlen, wenn man nie arbeitslos war. „Daher ist es notwendig, dass es eine Möglichkeit gibt, sich ein – wenn auch nur bescheidenes – Vermögen aufzubauen. Oder sich zumindest vor der Inflation zu schützen.“

“Sind jetzt dort, wo das Internet 1995 war”

Dass DeFi dazu beitragen wird, daran zweifelt er nicht: „Wie bei allem, was neu und innovativ ist, gibt es einen Wildwuchs an sehr vielen verschiedenen Konzepten und Ideen. Aus dem werden sich dann die dominanten Player der nächsten zehn bis 20 Jahre herauskristallisieren.“ Fröhler erwartet eine ähnliche Entwicklung wie in der Frühphase des Internets: Viele Unternehmen, die zur Zeit der Dotcom-Blase entstanden sind, verschwanden wieder – doch einige etablierten sich dauerhaft als führende Akteure der Branche. „Das wird in DeFi genauso sein: Ein paar Ideen werden sich durchsetzen und in zehn Jahren dann das Amazon oder Google des DeFi-Bereichs sein“, so Fröhler.

Bis dahin müsse noch viel geschehen; technisch etwa bei der Skalierbarkeit der Blockchains, auf denen die Anwendungen laufen, oder bei der User Experience. Auch, was die staatliche Regulierung angeht, stehe man erst am Anfang. „Wir sind jetzt dort, wo das Internet 1995 oder 1996 war.“ Bis 2030 wird es eine weltumspannende DeFi-Infrastruktur geben, erwartet Fröhler.

Könnte DeFi auch scheitern? „Individuelle Projekte ja, aber DeFi als Idee und als Konzept nein“, ist er sicher. Daher ist für ihn auch klar, unabhängig davon, ob sich Morpher durchsetzen wird oder nicht: Er wird jedenfalls im DeFi-Bereich bleiben: „Jeder andere Sektor in der Finanzbranche wäre Zeitverschwendung.“

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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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