29.03.2023

Massenkündigungen vs. Healthy Growth – verschiedene Perspektiven und eine Wahrheit

Wie die Startup-Welt funktioniert, wurde vielen erst bewusst, als Massenkündigungen plötzlich Thema waren und Menschen von einem Tag auf den anderen ihren Job verloren. Es gab harte Kritik, nicht nur an den „Layoffs“, sondern an der Szene allgemein. Und es tauchte die Frage auf, ob es nicht Alternativen zu den Hypergrowth-Bestrebungen gebe, die ein nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen. Dieter Rappold und Jule Wilhelm von Speedinvest Pirates, Co-Founder von Austrian Startups Daniel Cronin und Veronika Leibetseder vom Vorzeige-Unternehmen Dynatrace teilen ihre Ansichten zu diesem Thema und liefern Best-Practice-Beispiele samt Lösungsansätze.
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Massenkündigung, Hypergrowth, Cronin, Rappold, Leibetseder, Wilhelm
(c) Speedinvest Pirates/Austrian Startups/ Ines Thomsen - Veronika Leibetseder (l.o) von Dynatrace, Jule Wilhelm, Speedinvest Pirates, Dieter Rappold, Speedinvest Pirates und Daniel Cronin, Austrian Startups.

Perspektive ist so eine Sache. Sie ist fließend, sie kann gewechselt werden wie eine Meinung, kann – einmal angenommen – Standpunkte vertreten und als Verteidigerin von Positionen dienen. Sie kann aber auch, sollte sie starr und stur verwendet werden, Essenzielles ausblenden und der Kritik an einer Sache ihre Stärke entziehen. Vor diesem Hintergrund sind Wortmeldungen aus der und über die Startup-Szene stets zu durchleuchten, um ein ganzheitliches Bild des betreffenden Themas zu erreichen – besonders wenn es sich um emotional aufgeladene Themen wie Hypergrowth und Massenkündigung handelt.

2022 – Jahr des Mega-Wachstums und der Massenkündigung

2022 war das Jahr, in dem der Begriff Mega-Wachstum Einzug in die heimische Startup-Welt hielt, Unternehmen zu Unicorns wurden, neue Märkte anvisierten, auf Akquise-Tour gingen, um schlussendlich – auch den globalen Umständen geschuldet – in finanzielle Krisen zu verfallen und einen Haufen Leute zu kündigen, nachdem sie gewachsen waren und die Zukunft rosig schien. Neue Mitarbeiter:innen verlegten ihren Lebensmittelpunkt oder Wohnsitz und verloren wenige Wochen danach ihre Arbeitsplätze aufgrund von Sparmaßnahmen – so die Kurzfassung.

Es gab viel Aufregung. Entscheidungen und das Verhalten von Gründerinnen wurden kritisiert. Menschen, die ihren Job verloren haben, schlossen sich zu anonymen Gruppierungen zusammen, die Details und Interna ihrer alten Arbeitgebenden „leakten“ und allgemein ihrer Wut und ihrem Frust auf diversen Plattformen freien Lauf ließen. Von außerhalb der Startup-Szene mehrten sich Stimmen, die Startups gar als Wirtschaftsfaktor die Ernsthaftigkeit absprachen und das ganze „eine lächerliche Spielerei“ nannten. Das Konzept von Startup-Investment-Bewertung-Wachstum wurde infrage gestellt und Hypergrowth verkümmerte zu einer negativen Assoziation. Argumentationsketten drehten sich infolge darum, dass Massenkündigungen zu Startups einfach dazugehören und „Part of the Game“ seien.

Ist das wirklich nötig, Startup-Szene?

Es poppte auch die Frage auf, ob dieser sonst typische Vorgang „wirklich nötig sei“, ob die Jagd nach Risikokapital und hohen Firmenbewertungen wirklich das Nonplusultra der Startup-Community sein müsse und ob es nicht nachhaltigere Lösungen und andere Verhaltensweisen gebe, die nicht dazu führen, dass Einzelschicksale einen plötzlichen Tiefschlag erleiden bzw. Menschen von einem Tag auf den anderen ohne Beruf dastehen. Und dass vielversprechende Startups plötzlich mit einem PR-Fiasko zu kämpfen haben und Wege finden müssen, sich davon zu erholen.

Im Zuge der letztjährigen Massenkündigungen meinte der Gründer des VCs Speedinvest Oliver Holle im brutkasten-Gespräch, Hypergrowth sei „brutal und abnormal“, weil es nicht normal sei, derart schnell zu wachsen. Jedoch sei aus VC-Sicht der Hypergrowth die Zielsetzung. Man müsse sich auch als Mitarbeiter:in genau ansehen, ob man diese Reise mitgehen wolle. Mit dem Wissen, dass es ein kurzer Teil der Reise sein kann. Business Angel Hansi Hansmann indes zog damals sogar noch deutlicher ins argumentative Feld und meinte zu Massenkündigungen, es sei „selbstmörderisch“, es nicht zu tun.

Daniel Cronin, Co-Founder von Austrian Startups, gilt als „Pitch Professor“. Für ihn ist zwar die Triade „Schnelles Wachstum, Bewertung, Massenkündigung“ keine in Stein gemeißelte, jedoch sieht auch er keinen anderen Weg in der Form, wie Hypergrowth-Startups finanziert sind. „Es stecken unendlich viele Einzelschicksale dahinter“, sagt er. „Wenn ich bei einer erzkonservativen Bank anheuere, dann ist mein Job ein sicherer. Bei Hypergrowth-Startups muss ich mir der Gefahr des Verlustes bewusst sein. Das ist eine Risikofrage.“

Für ihn hat die Aufregung nach den Massenkündigungen viele Facetten. Ein Punkt jedoch, den er nennt, ist bemerkenswert und soll veranschaulichen, wieso die Aufregung derart große Ausmaße erreicht haben könnte. „Startups sehen, wenn sie auf 2.000 Leute anwachsen, bloß wie ein reguläres Unternehmen aus“, erzählt er. „Sie haben ein ,fettes‘ Büro und stellen vielleicht Leute aus dem Konzernumfeld an, die das Risiko gar nicht kennen und es nicht bewerten können. Wenn man externe Investoren hat, mit dem Fokus auf Profitabilität, muss man aber vielleicht einmal Dinge reduzieren, Büroflächen etwa, oder eben auch Personal. Das Ergebnis auf menschlicher Ebene ist übel, aber vielen neuen Mitarbeiter:innen, die von großen Unternehmen oder Konzernen kommen, ist wohl nicht bewusst, dass sie auf einem Schleudersitz sitzen. Sie sehen nur das moderne ,Headquarter‘ und ihr höheres Gehalt.“

Die billigen Jahre sind vorbei

Dieter Rappold, Founder und Senior Growth Strategist bei Speedinvest Pirates, empfindet den Diskurs als berechtigt, um über Teile des Ecosystems zu reflektieren. Er hat für die Geschehnisse, die 2022 in allen Aspekten sichtbar wurden, eine Grundlage ausgemacht: Die globale Entwicklung des billigen Geldes der letzten 20 bis 30 Jahre – maßgeblich dadurch befeuert, dass die Europäische Zentralbank bzw. die Fed „Geld gedruckt“ hat – hätte dazu geführt, dass zwar eine große Geldmenge, aber nur begrenzte Wachstumsperspektiven existierten.

„Dann ist man bereit, jeden Preis für die Aussicht auf Wachstum zu bezahlen“, sagt er. „Founder nutzen aufgeblasene Investmentrunden, um Hypergrowth zu finanzieren. In der aktuellen Situation kann man Unternehmen keinen Vorwurf machen; dass damit Einzelschicksale verbunden sind, ist ein anderes Thema.“ Als Gründerin dürfe man nun mal keine Entscheidungen auf Basis dieser Einzelschicksale treffen. „Es handelt sich hierbei auch um Menschen, die hervorragend ausgebildet sind und beste Chancen auf dem Jobmarkt haben“, ordnet Rappold den Diskurs etwas ein. „Wirklich soziale Probleme haben wir, wenn einer 55-jährigen Frau ohne höhere Ausbildung gekündigt wird.“

Für ihn bewegt sich der Startup-Sektor in einer Interdependenz, in der Founder:innen und Startups versuchen, Erwartungen und Bedürfnisse des Kapitalmarktes zu erfüllen. „Und der Kapitalmarkt hat exponentielle Wachstumsziele verlangt“, so der Growth-Experte weiter. „Aber er hat sich auch schnell gedreht. Heute muss der ,Path to Profitability‘ absehbar sein.“

Veronika Leibetseder, Sr. Director R&D Lab Operations Dynatrace, hat bei dieser Thematik ebenfalls eine klare Haltung. Man brauche als Unternehmen in gewissen Phasen schnelles Mitarbeitendenwachstum, etwa um in einem stark wachsenden Markt bei großen Kund:innen konkurrenzfähig zu bleiben. „Liegt dieses prozentuell aber weit über dem Umsatz- bzw. Gewinnwachstum, ist das nicht lange durchzuhalten. Das wird manchen Startups zum Verhängnis. Lässt man sich in Phasen eines starken Wachstumsdrucks zudem dazu verleiten, nicht darauf zu achten, ob wirklich alle neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ,cultural fit‘ sind, oder vernachlässigt man das Onboarding und Training neuer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, geht man einen schwierigen Kompromiss ein. Das kann verhängnisvoll sein.“

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N26-Founder Maximilian Tayenthal und Valentin Stalf (v.li.) (c) N26

Elf Jahre nach ihrer Gründung gelingt es der Neobank N26, über einen längeren Zeitraum profitabel zu wirtschaften. Im dritten Quartal dieses Jahres erzielte das Unternehmen zum ersten Mal ein operatives Ergebnis von 2,8 Millionen Euro im Plus. Bereits im Juni konnte die Neobank ihren ersten monatlichen Gewinn verbuchen – brutkasten berichtete.

2024: 440 Mio. Euro Umsatz

Mitte des Jahres äußerte CEO Valentin Stalf die Hoffnung, dass das gesamte Jahr profitabel ausfallen könnte. Fünf Monate später steht N26 jedoch vor einem (unbereinigten) operativen Jahresminus von etwa 20 Millionen Euro. Zum Vergleich: Im Vorjahr lag das Minus noch bei 78,3 Millionen Euro.

Die aktuellen Zahlen verdeutlichen, dass es für die Neobank N26 in diesem Jahr deutlich bergauf geht. Der Umsatz wird voraussichtlich rund 440 Millionen Euro erreichen, was einem Wachstum von etwa 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Nahezu die Hälfte davon soll aus Zinserträgen stammen, ergänzt durch Erträge aus der Veranlagung von Kundengeldern und einem wachsenden Anteil aus dem Kreditgeschäft. Der Rest resultiert aus Gebühren und Provisionen.

N26: Transaktionsvolumen von 140 Milliarden Euro

Erstmals überschritt der Betrag der Kundeneinlagen in diesem Jahr die zehn Milliarden Euro. Das Transaktionsvolumen soll 2024 zudem 140 Milliarden Euro erreichen.

Nach der Aufhebung der Wachstumsbeschränkung im Juni, die von der deutschen Finanzaufsicht Bafin aufgrund von Mängeln in der Geldwäsche- und Betrugsbekämpfung verhängt wurde, verzeichnet N26 aktuell mehr als 200.000 Neuanmeldungen pro Monat, wie Stalf verkündet.


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