04.11.2019

Höhle der Löwen: Marketing-Expertin über die Startups aus Folge 10

Die Marketingexpertin Barbara Rauchwarter, CMO der APA und Präsidentin der Österreichischen Marketing-Gesellschaft, beleuchtet die fünf Startups aus "Die Höhle der Löwen" Folge zehn aus strategischer Perspektive und bewertet das Marketingpotenzial der Produkte schon vorab.
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Die Höhle der Löwen - Marketing-Expertin über die Startups aus Folge 10
(c) Investorin TVNOW -Bernd Michael Maurer: Judith Williams nimmt das gekeimte Bio-Müsli von "Keimster" genau unter die Lupe.

Vergangene Woche nahm Futura-Geschäftsführer und Präsident der Österreichischen Marketing-Gesellschaft Alexander Oswald die Teilnehmer von “Die Höhle der Löwen” unter die Lupe und konnte sich vor lauter Begeisterung nicht für einen Favoriten entscheiden. Diese Woche bewertet Marketingexpertin Barbara Rauchwarter, CMO der APA und Präsidentin der Österreichischen Marketing-Gesellschaft, für uns die Startups aus Folge zehn aus strategischer Perspektive.

+++ DHDL Folge 9: Modisch bewusste Autositze und mitwachsende Schneeanzüge +++

1. ELIXR

ELIXR tritt bei “Die Höhle der Löwen” mit seinen – nach eigenen Angaben – geschmacklich ansprechenden Ölen für den Detox-Trend “Ölziehen” an. Zudem plant man weitere Beauty- und Wellness-Produkte.

Die Einschätzung der Expertin

Das verheiratete Gründerpaar setzt mit seinem Produkt auf einen aktuellen Beauty-Trend: Ölziehen. Somit entstand ELIXR, ein weiteres Produkt in der schier unerschöpflichen Reihe der Wellness- und Beautyprodukte. Die Idee, das nicht sehr schmackhafte Öl mit Geschmack aufzupeppen, ist schon vor vielen Jahren meiner Oma gekommen. Sie hat das Öl, je nach Lust und Laune, mit Zimt, getrockneten Orangenschalen und ähnlichem angesetzt. Neu ist also an der Idee, dass es jetzt ein vermarktbares Produkt ist, das fix und fertig zu erwerben ist. Ein Mehrwert besteht ausschließlich im Geschmack.

“Potenzial überschaubar”

Ich halte das Potenzial für überschaubar, denn es gibt unheimlich viel Mitbewerb im Sektor der Wellness- und Lifestyle-Produkte. Das Ölziehen ist hier noch einmal eine speziellere Nische, die sich einer noch spezielleren Zielgruppe bedient. Das kann in manchen Fällen als Spezialisierung funktionieren, scheint in diesem Fall aber zu wenig Nutzen für ein relativ teures Produkt zu haben. 200 Milliliter um rund 15 Euro ist ein stolzer Preis – ein Liter eines guten Öls kostet deutlich weniger.

Der Shop beinhaltet derzeit drei Produkte, daher ist er naturgemäß übersichtlich – ein klarer Pluspunkt. Über die Customer Journey lässt sich dennoch wenig sagen. Lediglich, dass Usern verhältnismäßig viele Bezahloptionen angeboten werden – ein sehr kundenfreundlicher Aspekt. Ein Facebook-Auftritt ist zwar vorhanden, mit relativ wenig Postings und quasi keiner Interaktion jedoch mit viel Luft nach oben. Zudem wäre es sinnvoll bei einem solchen Produkt auch User-Bewertungen zuzulassen. Wenn man nach ELIXR sucht, findet man überraschenderweise auch eine zweite Facebook-Page unter gleichem Namen, welche Naturkosmetik anbietet. Dies könnte schlecht fürs Geschäft werden.

Fazit

ELIXR ist ein Produkt, das wenig Alleinstellungsmerkmal bietet, in den Trend gesund und schön einzahlt, ziemlich professionell präsentiert ist, aber auch sehr vergleichbar. Mehr Interaktion mit Nutzern, ein Forum oder andere vergleichbare Maßnahmen würden der Sache sicher guttun, ebenso ein bisschen mehr Storytelling.

2. binky box

Das Startup binky box will bei “Die Höhle der Löwen” mit einem am Bett zu befestigenden Schnullerspender überzeugen, der auch von den Kindern selbst bedient können werden soll.

Die Einschätzung der Expertin

Eltern, die nicht genug Schlaf bekommen, sind grundsätzlich eine dankbare Zielgruppe für Produkte, die Abhilfe versprechen. Somit wäre ein Problemlöser wie der Schnullerspender des süddeutschen Gründers sicher sinnhaft. Grundsätzlich halte ich das Produkt für eine gute Idee, zumindest nach acht schlaflosen Monaten besteht Chance auf Selbstbedienung durch das Baby. Die Fertigung erfolgt in Deutschland, hat ein Gütesiegel und auch bereits einen Award gewonnen – das schafft Vertrauen bei der zumeist sehr anspruchsvollen Zielgruppe der Jungeltern.

Überdies weist die Website auf höchste Qualitätsansprüche hin und ist übersichtlich gestaltet. Ebenso der Shop, der aber auch nur vier Produkte beinhaltet, was die Herausforderung der Userführung in Grenzen hält. Eine Präsentation auf Facebook ist auffindbar, allerdings sehr ausbaufähig. Denn derzeit ist die Community wirklich noch sehr klein und noch kaum aktiv. Hier darf es gern ein bisschen mehr sein, um auch weitere User vom Nutzen des Produktes zu überzeugen.

Fazit

Eine gute Idee mit einer stabilen Zielgruppe, die sich ein bisschen Marketingunterstützung verdient hätte, eventuell auch den Vertrieb über einen gängigen Marktplatz. Mit dem Namen habe ich allerdings jede Menge Auftritte in den sozialen Medien gefunden, neben diversen Baby-Angeboten auch einiges für Haustiere. Dieser wäre eventuell nochmals zu überdenken. Die binky box könnte definitiv ein Favorit sein.

(c) APA – Ludwig Schedl: Marketing-Expertin Barbara Rauchwarter

3. Keimster

Keimster versucht es bei “Die Höhle der Löwen” mit einem Basismüsli mit gekeimten Getreidesorten. Im Gegensatz zu einem normalen ungekeimten Korn, können die Nährstoffe laut Gründern leichter vom Körper aufgenommen und umgesetzt werden. Sie enthielten mehr Aminosäuren, Vitamine, Proteine und sekundäre Pflanzenstoffe.

Die Einschätzung der Expertin

Keimster ist eine weitere Business-Idee aus der unendlichen Reihe rund um das Thema Ernährung, Lifestyle und Wellness. Leider wirkt sie damit nicht so wahnsinnig originell. Was mir aber gut gefällt, ist, dass die Story über das Produkt hinausgeht. Was mich auf der Website als Erstes angesprochen hat, war die Frage, warum die Verpackungen so groß sind. Hier, zusätzlich zum biologischen, gesunden Produkt, auch das Thema Verpackung, Vermarktung und Transport in der Storyline zu thematisieren, halte ich nicht nur für einen klugen Marketing-Schachzug, sondern auch für eine konsequente Weiterführung der Grundidee. Auch die angebotenen Rezepte ergänzen das Thema sinnvoll.

Der Onlineshop ist übersichtlich, die Website SEO-technisch gut aufgestellt und der Facebook-Auftritt passabel. Hier könnte man beispielsweise durch Ads allerdings noch die Reichweite ausbauen, zumal das Produkt nur online vertrieben wird. Als zweiten Social Media-Channel bedienen sich die beiden Gründer aus Leipzig der visuellen Power von Instagram. Dies trifft sicher gut die Zielgruppe und ist sehr ästhetisch.

Fazit

Eine nicht wirklich innovative Idee wird hier dennoch aus Marketing-Perspektive gut umgesetzt. Man könnte bei einem solchen Produkt vermehrt auf Social Media-Performance setzen und beispielsweise auf Instagram direkter werben – Stichwort #linkinbio. Denn die Story hinter dem Produkt stimmt, nur könnte diese noch besser kommuniziert werden.

4. no rats on board

Mit dem Gadget, mit dem das Schweizer Gründer-Geschwisterpaar von no rats on board bei “Die Höhle der Löwen antritt, wird Ratten, die sich an Bord von Yachten, Fracht- oder Kreuzfahrtschiffen begeben wollen, wortwörtlich der Weg abgeschnitten. Denn das Produkt setzt dort an, wo Ratten häufig an Bord kommen, den sogenannten Festmacherleinen.

Die Einschätzung der Expertin

Ratten sind grundsätzlich ein eher unangenehmes Thema. Dass sie auf Schiffen immer wieder zum Problem werden, ist selbst mir als “Landratte” (sic) bewusst. No rats on board nimmt sich eines Problems einer sehr klar definierten Zielgruppe an, und zwar, bevor es eigentlich wirklich zum Problem wird. Fallen, um Ratten an Bord zu fangen, gibt es sicher zu genüge. Das Problem allerdings schon zu lösen, bevor sich die Tierchen aufs Schiff begeben, halte ich für innovativ.

Auch eine rasche Google-Suche ergab keine anderen Treffer zu Lösungen für dieses Problem. Also steht dem Produkt aus SEO-Sicht nichts im Wege um gut performen zu können. Leider stößt die Kampfansage an Wasserratten jedoch auf Facebook nicht wirklich auf viele Reaktionen – hier ist noch deutlich Luft nach oben. Hier ließe sich für die doch recht spezielle Zielgruppe eine gute Reichweite aufbauen.

Fazit

Insgesamt birgt die Idee großes Potenzial. Das zu behebende Problem ist allgegenwärtig und spricht eine spezifische Zielgruppe an. Aus Marketing-Sicht könnte das Business einen größeren Push vertragen, vor allem auf Social Media stehen hier die Chancen sicher gut.

5. DE CANA – Panela

Das Startup DE CANA will bei “Die Höhle der Löwen” mit seinem Premium-Zucker (Panela) überzeugen, der in Kolumbien fair und besonders schonend aus Bio-Zuckerrohr hergestellt wird.

Die Einschätzung der Expertin

“Die Panela ist wohl der natürlichste und leckerste Zucker, den Deutschland je gesehen hat.” – Dies proklamiert die 32-jährige Gründerin aus Frankfurt am Main zu ihrem Produkt. Es ist schon das dritte aus dem Bereich Ernährung und Lifestyle in dieser Folge der Höhle der Löwen. Hier geht es um ein Thema, das heiß diskutiert wird: Zucker. Denn egal, ob Zucker aus natürlichen Quellen gewonnen oder raffiniert wird, die Wirkung auf den menschlichen Körper ist immer die gleiche. Insofern ist es spannend, hier auf das Thema “natürlichen” Zucker zu setzen, der aus Zuckerrohr gemacht und nicht raffiniert wird.

Die Story des Produktes, nämlich dass der berühmte kolumbianische Kaffee quasi neben dem Zuckerrohr wächst, ändert wohl nichts am Produkt. Der einzig für mich interessante Ansatz ist die soziale Komponente: die Unterstützung kolumbianischer Bauern und die Zusammenarbeit mit der Kooperative. Marketingtechnisch schwierig finde ich den Namen DE CANA, während das Produkt im Kolumbischen Panela heißt. Zusätzlich findet offenbar grade ein Rebranding statt: De CANA heißt jetzt Guatavita de Colombia. Kurz, all das ist sehr verwirrend und markentechnisch zumindest zeitweise schwierig.

Der Shop läuft bereits unter der neuen Marke und bietet eine durchschnittliche Performance. Soziale Kanäle wie Facebook und Instagram werden bespielt, allerdings ist eine zugehörige Reichweite quasi nicht vorhanden. Dafür stimmt zumindest alles Weitere in Sachen SEO und SEA.

Fazit

Vom sozialen Engagement her kann sich das Konzept sehen lassen. Allerdings weist das Produkt – um das sich eigentlich alles dreht – eher wenige Innovationswerte auf. Unterstützenswert wäre es aufgrund der kolumbianischen Bauern. Das Produkt selbst gehört allerdings nicht zu meinen Favoriten.

Persönlicher Favorit für Folge 10/2019 von “Die Höhle der Löwen”

Meine persönlichen Favoriten in dieser Woche sind binky box und no rats on board. Sie bieten klare, einfache, aber dennoch innovative Lösungen für allgegenwärtige Problemfelder und überzeugen in Teilen auch schon aus Marketing-Perspektive. Ich wünsche natürlich dennoch allen Startups viel Erfolg!


⇒ ELIXR

⇒ binky box

⇒ Keimster

⇒ no rats on board

⇒ DE CANA

⇒ ÖMG

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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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