22.07.2022

Crypto Weekly #66: Massiver Kursanstieg bei Ethereum – was Guns N’ Roses damit zu tun hat

Der Kryptomarkt startete diese Woche einen erneuten Erholungsversuch. Besonders stark: ETH mit einem Plus von über 35 Prozent - und auch andere Token mit Bezug zum Ethereum-Ökosystem waren gefragt. Wir beleuchten die Hintergründe. Außerdem: Warum Tesla einen Großteil seiner Bitcoin-Bestände verkauft hat.
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Ethereum
Foto: Adobe Stock

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Die Kurstafel:

  • Bitcoin (BTC): 23.500 US-Dollar (+14 % gegenüber Freitagnachmittag der Vorwoche)
  • Ethereum (ETH): 1.640 Dollar (+37 %)
  • BNB: 270 Dollar (+13 %)
  • Solana (SOL): 44 Dollar (+18 %)
  • Ethereum Classic (ETC): 27 Dollar (+80 %)

Starke Woche am Kryptomarkt, Bitcoin am höchsten Stand seit Mitte Juni

Der Blick auf die Kurstafel zeigt es schon: Es war eine sehr starke Woche am Kryptomarkt: So hat sich Bitcoin (BTC) seit vergangenem Freitag durchwegs über der 20.000-Dollar-Marke gehalten. Am Mittwoch erreichte der Kurs mit über 24.000 Dollar den höchsten Stand seit Mitte Juni.

Auch abseits von Bitcoin ging es deutlich aufwärts: Die meisten großen Krypto-Assets legten seit vergangenem Freitag ebenfalls im niedrigen zweistelligen Prozentbereich zu. Noch einmal deutlich übertroffen wurden diese Performances allerdings von Ethereum (ETH) mit einem Plus von 37 Prozent. Und auch einige andere eng mit dem Ethereum-Ökosystem verbundene Token legten in einer ähnlichen Größenordnung zu – dazu aber später noch mehr.

Was sind die Hintergründe der positiven Marktentwicklung? Den einen Auslöser, der für alles verantwortlich war, gab es nicht. Aber langsam steigt die Zuversicht, dass wir den Boden am Markt möglicherweise schon erreicht haben – und zunehmend macht die Hoffnung auf eine Erholungsbewegung breit. 

Wichtig dabei: Wieder einmal betrifft es nicht nur den Kryptomarkt. Auch am US-Aktienmarkt ging es diese Woche deutlich nach oben: Der vor allem Tech-Aktien umfassende Nasdaq-100 stieg diese Woche an zwei Handelstagen um rund 1,5 Prozent und einmal sogar um mehr als 3 Prozent. 

Die Korrelation zwischen Bitcoin und der Nasdaq ist zuletzt zwar etwas gesunken – allerdings ausgehend von einem sehr hohen Niveau. Von einer Rückkehr zu einer Situation wie vor 2020 – als Bitcoin und der US-Aktienmarkt praktisch unkorreliert waren – sind wir weit entfernt.

Weiterhin gilt: Der aktuelle Erholungsversuch am Markt ist zunächst einmal nur ein solcher. Oft genug haben sie solche Kursanstiege auch als “Bärenmarktrallys” erwiesen – also als nur kurzfristige Phasen steigender Kurse in einem mittelfristig weiterhin fallenden Markt. Ob der Boden tatsächlich schon erreicht worden ist und der langsam steigende Optimismus am Markt berechtigt ist, wird sich erst weisen müssen. 

Ethereum mit 37 Prozent Plus – kommt der “Merge” nun wirklich im September?

Aber kommen wir nun wie angekündigt zurück zu Ethereum. In der ohnehin schon starken Woche stach der Ether-Kurs mit einem Plus von 37 Prozent noch einmal hervor. Hintergrund ist hier der sagenumwobene Umstieg vom “Proof of Work”-Konsensusmechanismus auf “Proof of Stake”. Mining wird dann eingestellt, Blocks werden mittels Staking zur Chain hinzugefügt. Was mit einem massiv niedrigeren Energieverbrauch einhergeht. Kritische Stimmen sehen jedoch Gefahren in Richtung Zentralisierung. Der Umstieg wird zumeist als “Merge” bezeichnet – weil er technisch so funktioniert, dass die bereits existierende “Proof of Stake”-Chain, die Beacon-Chain, mit dem Ethereum-Mainnet verschmolzen wird.

Der Abschied von “Proof of Work” ist Jahren geplant – seine Umsetzung hat sich dann jedoch als schwieriger erwiesen als gedacht. Weshalb er mitunter schon ein bisschen zu einem Meme geworden ist. Der Umstieg auf “Proof of Stake” sei immer gerade noch sechs Monate entfernt, wird dabei gerne gespottet.

In den vergangenen Wochen ist die Angelegenheit aber nun immer konkreter geworden. So wurde der Merge etwa Anfang Juni auf dem wichtigen Testnet Ropsten vollzogen. Anfang Juli folgte mit Sepolia ein weiteres Test-Netzwerk. Damit fehlt jetzt tatsächlich nur mehr eines: Das Goerli-Testnet.

Und dazu gab es nun diese Woche ein neue Infos: Am Goerli-Netzwerk soll der Merge in rund drei Wochen, am 11. August, durchgeführt werden. Läuft dort alles glatt, könnte der Merge am Mainnet nur wenige Wochen später umgesetzt werden – konkret in der Woche vom 19. bis 25. September. 

Dieser von einem der führenden Entwickler der Ethereum-Foundation, Tim Beiko, vorgeschlagene Zeitplan ist aber natürlich nicht in Stein gemeisselt. Gibt es Probleme auf Goerli, wird sich auch der Merge am Mainnet verzögern. Und völlig klar ist auch eines: Die Entwickler werden im Zweifel immer der Sicherheit des Netzwerks eine höhere Priorität einräumen als Zeitplänen.

Am Markt wurde der Zeitplan aber dennoch sehr positiv aufgenommen – immerhin existiert nun ein konkretes, wenn auch noch nicht fixes, Datum für den Merge. Und damit ist ein weiterer Schritt in Richtung “Proof of Stake” getan.

Möglicherweise verhält es sich mit dem Merge ein bisschen so wie mit “Chinese Democracy”, dem sechsten Studioalbum von Guns N’ Roses. Das Album wurde 1999 erstmals angekündigt – aber das Erscheinen verzögerte sich dann Jahr für Jahr. “Chinese Democracy” ging als Synonym für ein lange angekündigtes, aber dann endlos verschobenes Projekt in die Popkultur ein. 

Allerdings: Als wohl nur mehr wenige daran glaubten, erschien das Album 2008 dann doch noch. Und trotz aller Verzögerungen dürfte auch der “Merge” in den nächsten Monaten tatsächlich Realität werden. Guns N’ Roses konnten mit “Chinese Democracy” übrigens nicht mehr an ihre großen Erfolge von Ende der 1980er und Anfang der 1990er anschließen. Was aber natürlich keine Prognose über die Erfolgsaussichten des “Merge” sein soll, wir wollen die Analogie ja nicht überstrapazieren.

Warum der “Merge”-Zeitplan auch die Kurse von Lido und Ethereum Classic anziehen ließ

Neben dem herkömmlichen Ether (ETH) sprang auch der Kurs der auf Lido gestakten Ether (stETH) nach oben. Lido ist ein Staking-Pool – und ermöglicht es, auch mit kleineren Beträgen Ethereum-Staking zu betreiben. Ohne solche Pools muss man 32 ETH aufwenden, um ein Ethereum-Validator zu werden. 

Wer über Lido Ether fürs Staking zur Verfügung gestellt hat, erhält Erträge, kann aber auf seine Token erst nach dem Merge zugreifen – weshalb stETH gegenüber dem eigentlichen ETH am Markt mit einem Abschlag gehandelt wird. Etwas vereinfacht gesagt könnte man diesen als Preisnachlass verstehen, den man für das Risiko erhält, dass der Merge doch nicht kommt. Zuletzt hat sich der Abschlag wieder etwas reduziert. Aktuell wird ETH mit 1.640 Dollar gehandelt und stETH liegt bei 1.600 Dollar.

Massiven Auftrieb verliehen die Neuigkeiten rund um den “Merge” auch Lidos eigenen Token LDO. Er stieg seit vergangenem Freitag um mehr als 75 Prozent. 

In einer ähnlichen Größenordnung nach oben ging es außerdem für Ethereum Classic (ETC). Der Token der ursprünglichen Ethereum-Blockchain zog um rund 78 Prozent an. Ethereum Classic entstand im Zuge des berühmt-berüchtigten DAO-Hacks im Jahr 2016. Damals wurden 5 Prozent aller damals sich im Umlauf befindlichen Ether-Coins gestohlen. 

In einer umstrittenen Entscheidung wurde der Zustand der Blockchain vor dem Hack mittels “Hard Fork” wiederhergestellt. Die ursprüngliche Ethereum-Blockchain blieb jedoch als “Ethereum Classic” weiter bestehen und existiert bis heute. Mit einer Marktkapitalisierung von rund 3,5 Mrd. Dollar liegt ETC aktuell auf Platz 23 der größten Krypto-Assets. 

Ein Thema ist der “Merge” für Ethereum Classic vor allem aus einem Grund: Mit dem Umstieg auf “Proof of Stake” wird Mining auf der Ethereum-Blockchain überflüssig. Das gilt aber nicht für “Ethereum Classic” – Miner könnten daher auf diese Blockchain ausweichen und künftig ETC minen. Ob dieses Szenario – vor allem langfristig – realistisch ist, wird sich weisen. Offenbar dürften aber einige Marktteilnehmer darauf spekulieren.

Warum Tesla einen Großteil seiner Bitcoin-Bestände verkauft hat

Kommen wir abschließend noch einmal zu Bitcoin – und zu Elon Musk. Teslas Bitcoin-Investments waren 2021 eine der großen Storys im Bullenmarkt. Im Februar 2021 war bekannt geworden, dass der Elektroauto-Hersteller 1,5 Mrd. Dollar in Bitcoin investiert hatte. 

Im März begann das Unternehmen dann in den USA auch, Bitcoin-Zahlungen zu akzeptieren. In einer überraschenden Kehrtwende machte Tesla-CEO Musk dies im Mai bereits wieder rückgängig. Allerdings werde Tesla seine Bitcoin-Bestände nicht verkaufen, hieß es damals. Wobei man hinzufügen muss: Schon im April war bekannt geworden, dass Tesla rund 10 Prozent der Bestände bereits damals wieder verkauft hatte – laut Musk allerdings lediglich, um zu zeigen, dass Bitcoin eine liquide Alternative zu Cash in der Bilanz sei.

Diese Woche wurde anlässlich der Veröffentlichung der Geschäftszahlen zum zweiten Quartal 2022 nun publik, dass Tesla Bitcoin in größerem Ausmaß verkauft hat. Man habe “rund 75 Prozent unserer Bitcoin-Käufe in Fiat-Währung umgewandelt”, heißt es in der Investoren-Präsentation. Damit habe Tesla 936 Mio. Dollar eingenommen. Im begleitenden Analysten-Call begründete Elon Musk die Verkäufe mit dem Liquiditätsbedarf des Unternehmens angesichts der Covid-Lockdowns in China. Man solle sie nicht als Urteil über Bitcoin sehen.

Hat Tesla mit den Verkäufen Verluste gemacht? Tesla-CFO Zachary Kirkhorn sagte in dem Call, dass man die Bitcoin-Bestände zwar mit einem Gewinn verkauft habe. Mit jenen Bitcoin, die Tesla weiter hält, liegt das Unternehmen jedoch zu den aktuellen Marktpreisen im Minus. Und dieser Buchverlust ist auch höher als der mit den Verkäufen realisierte Gewinn. Unterm Strich hätten die Bitcoin-Investments das Ergebnis von Tesla mit rund 106 Mio. Dollar belastet, sagte CFO Kirkhorn.

Und Dogecoin? Laut Bilanz hält das Unternehmen weiterhin digitale Assets im Wert von 218 Mio. Dollar. Und dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Bitcoin – sondern zumindest auch um Dogecoin. Musk bestätigte im Call erstmals, dass Tesla Dogecoin hält.

Allerdings muss man hier einschränken: Dabei dürfte es sich nur um einen marginalen Anteil von Teslas digitalen Assets handeln. Das Unternehmen akzeptiert seit diesem Jahr DOGE-Zahlungen – aber nicht für Autos, sondern nur für Merchandise. Es liegt nahe, dass es sich bei den erwähnten Dogecoin-Beständen einfach um die Einnahmen aus diesem Geschäft handelt – und die dürften nicht allzu hoch sein.


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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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