24.06.2021

Niki Popper: “Durchimpfungsrate verschafft uns nicht genügend Zeitvorsprung gegenüber Delta-Variante”

Der renommierte österreichische Simulationsforscher Niki Popper spricht im Interview mit dem Brutkasten über die Delta-Variante, die sich aktuell am Vormarsch befindet.
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Niki Popper
Der österreichische Simulationsforscher Niki Popper | (c) der brutkasten / Stephan Zobl

Es handelt sich um einen Wettlauf mit der Zeit: Während die Coronavirus-Neuinfektionen in Österreich stark rückläufig sind, steigt aktuell die Anzahl der Fälle der Delta-Variante. Diese ist laut Experten nicht nur ansteckender, sondern führt auch zu einem schwereren Krankheitsverlauf. Laut der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) wurden in Österreich bis lang 361 Fälle festgestellt (Stand Mittwochnachmittag).

In einem Brutkasten-Talk über die “Digitalisierung des Gesundheitssystems” gab der österreichische Simulationsforscher Niki Popper am Mittwoch eine Prognose ab, wie sich die Delta-Variante in den nächsten Wochen und Monaten in Österreich ausbreiten könnte.

Das Interview über die Delta-Variante entstand im Zuge eines Brutkasten-Talks über die “Digitalisierung des Gesundheitssystems”.


Wie schätzen Sie aktuell die Lage rund um die Delta-Variante ein?

Popper: Die aktuelle Diskussion rund um die Delta-Variante geht meiner Meinung nach am Thema vorbei. Die einen sagen, dass nichts passieren wird und die anderen sagen, dass wir alle sterben werden. Man kann es sich aber auch ganz einfach durchspielen. Nach derzeitigem Wissensstand funktioniert die Delta-Variante bei Doppelgeimpften kaum. Personen, die zweimal geimpft sind, können wir somit außen vor lassen. Bei Menschen, die nur eine Dosis erhalten haben, reicht der Schutz gegen die Delta-Variante allerdings nicht aus. Wenn wir davon ausgehen, dass zwei Drittel der Menschen eine doppelte Impfdosis erhalten haben, bedeutet dies allerdings auch, dass wir drei Millionen Menschen haben, die noch nicht über ausreichend Schutz verfügen.

Wenn wir glauben, dass wir in einer mit Watte gepackten Welt leben, dann handelt es sich um einen Irrglauben.

Niki Popper

Zudem muss man sich noch die Frage stellen: Verteilt sich die Delta-Variante gleichmäßig oder in Gruppen. Wir wissen leider, dass sie mehr in Gruppen auftritt. Die Delta-Variante wird in diesen Klein-Populationen immer eine Mini-Epidemie auslösen. Dieses Szenario werden wir voraussichtlich auch im Herbst sehen. Das klingt jetzt natürlich ein wenig pessimistisch. Die Frage ist allerdings, wie groß diese Gruppen sind und welche Personengruppen davon betroffen sind. Die älteren und vorerkrankten Menschen wurden zum Glück bereits zweimal geimpft. Wichtig ist es jetzt, dass wir möglichst gut impfen und die Screenings aufrechterhalten. Wenn wir schnell isolieren, können wir die Lage aber weitgehend im Griff behalten.

Haben wir in Österreich mit der aktuellen Durchimpfungsrate genügend Zeitvorsprung gegenüber der Delta-Variante?

Popper: Nein.

Das war eine klare Antwort

Popper: Im Moment funktioniert das Impfen gut, aber ich bin auch ein bisschen skeptisch, was das Screening in der Ferienzeit im Juli und August angeht. Warum? Im Sommer werden nämlich die Schultests wegfallen. Aktuell werden über die Schultests drei Mal die Woche 1,2 Millionen Menschen in Österreich getestet. Das fällt dann vollständig weg und wirkt sich natürlich negativ auf das Screening aus. Zudem müssen wir schauen, dass im Juli und August die Impfzahlen hochbleiben. Gerade für die Delta-Variante ist die zweite Impfung extrem wichtig. Die erste Impfung schützt laut Studien noch nicht so gut. Allerdings haben wir in unseren virtuellen Modellen, dann nicht mehr neun Millionen Menschen, sondern nur mehr drei, zwei oder eineinhalb Millionen Menschen, die noch nicht geschützt sind. Das macht einen großen Unterschied. Daher ist es um so wichtiger, die Leute zum Impfen zu motivieren.

Haben Sie damit gerechnet, dass so schnell ein Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt wird?

Ich war tief beeindruckt, wie schnell es der Menschheit gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln. Wir hatten Jahrhunderte lang keine Chance uns gegen solche Pandemien zu schützen und haben nun innerhalb von wenigen Monaten einen einsetzbaren Impfstoff entwickelt, der nach höchsten Qualitätskriterien getestet wurde. Wir können als Menschheit wirklich stolz darüber sein.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als in Innsbruck die ersten Fälle aufgetreten sind. An diesem Tag haben wir auch die ersten Modelle berechnet. Ein Modell umfasste einen kompletten Lockdown, eines indem nichts gemacht wird, was sehr schlecht für uns augegangen wäre, und dann noch ein mittleres Modell, das die Dauer der Pandemie auf 500 Tage prognostizierte. Heute haben wir Tag 480 der Pandemie. Als wir mit dem mittleren Modell an die Medien gegangen sind, waren alle total fassungslos, dass die Pandemie mehr als ein Jahr dauern könnte. In der Pandemie haben wir sowohl schlechtes als auch gutes erlebt und uns wurde klar, wie vulnerabel unsere Gesellschaft ist.

Was hat Sie im Zuge der Coronakrise am meisten überrascht?

Am meisten hat mich überrascht, dass so ein Virus ausreicht, um wirklich alle Dinge auf den Kopf zustellen. Wir haben gelernt, dass wir vieles in unserer Gesellschaft nicht für selbstverständlich nehmen dürfen. Es können und werden auch noch andere Krisen kommen. Wenn wir glauben, dass wir in einer mit Watte gepackten Welt leben, dann handelt es sich um einen Irrglauben. Eines ist mir aber wichtig: Als Simulationsforscher prognostizieren wir keine fatalistische Zukunft. Vielmehr wollen wir aufzeigen, wo wir Innovation einsetzen können, um gegebene Situationen zu verbessern.


Niki Popper ist ein österreichischer Simulationsforscher und erlange durch seine Computermodelle zur COVID-19-Pandemie internationale Bekanntheit. 2020 waren seine Modellrechnungen die Grundlage für die Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung. Zudem wurde der Experte auch in den Beraterstab der Coronavirus-Taskforce im Gesundheitsministerium berufen. Neben seiner Tätigkeit als Forscher betreibt Popper auch die dwh GmbH, ein F&E-Unternehmen, das Simulationsdienstleistungen anbietet – unter anderem auch zu Innovationen im Gesundheitsystem. Vom 24. bis 26. Juli ist Popper am Austrian Health Forum 2021 in Schladming zu Gast, um mit führenden Experten über die Digitalisierung im österreichischen Gesundheitssystem zu sprechen.

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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