04.07.2017

mySugr-Exit: “Erhalt der Autonomie war Roche genau so wichtig wie uns”

Interview. Der mySugr-Exit an den Pharma-Konzern Roche, der von Hansi Hansmann als "europaweit größte Akquisition im Digital Health-Bereich" bezeichnet wurde, schlug in Österreich große Wellen. Nun hat das Gründer-Team dem Brutkasten einige Fragen dazu beantwortet.
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(c) mySugr: Die vier Founder (vlnr.) Gerald Stangl, Frank Westermann, Michael Forisch und Fredrik Debong

Betrag wurde zwar keiner genannt, die Akquisition des Wiener Startups mySugr sei aber die größte im Digital Health-Bereich, zumindest in Europa gewesen, ließ Business Angel Hansi Hansmann den Brutkasten wissen. Mit 15,7 Prozent Beteiligung war er bis zum vergangene Woche bekanntgegebenen Exit der formell größte Anteilseigner bei mySugr. Tatsächlich hatte er aber auch Kapital weiterer Investoren treuhänderisch verwaltet. So sei etwa ein befreundeter Banker aus seinem spanischen Netzwerk mit 200.000 Euro über ihn beteiligt gewesen, der nun einen super Exit hatte, sagt Hansmann.

Andere seien weniger vorausschauend gewesen. “Ich habe in Österreich vielen Corporates und Versicherungen das Investment angeboten und wurde nur belächelt”, erzählt er. Hansmann hatte dann auch bei den Exit-Verhandlungen mit dem langjährigen mySugr-Partner Roche aktiv mitgewirkt, der ebenfalls bereits seit längerem in das Startup investiert war. Die mySugr-Founder Frank Westermann, Fredrik Debong, Gerald Stangl und Michael Forisch erzählten uns nun im Interview, wie der Exit aus ihrer Sicht verlaufen ist.

+++ mySugr-Exit an Roche – “Europaweit größte Digital Health-Akquisition” +++

War es eine schwere Entscheidung, zu verkaufen?

Sein Baby zu verkaufen ist natürlich eine schwere Entscheidung. Wir haben es uns nicht leicht gemacht und viele Monate investiert um herauszufinden, was für uns der richtige Weg ist. Der Digital Health Markt hat gerade ein unfassbar starkes Momentum. Unsere direkten Mitbewerber stellen in den USA Kapitalerhöhungen zwischen 30 und 100 Millionen Dollar auf und die großen Konzerne richten ihre Strategie auf das digitale Zeitalter aus. Um unsere aktuell starke Position noch weiter auszubauen, war uns klar, dass wir eine Kapitalerhöhung in ähnlicher Größe aufstellen müssen, oder uns eben mit einem starken Partner zusammenschließen sollten.

“Die Chemie hat gestimmt, die Strategie war überzeugend und das Angebot war beeindruckend.”

Vor wenigen Monaten ist Roche mit dieser großen Idee auf uns zugekommen: mySugr sollte ins Zentrum seiner neuen digitalen Strategie wandern. Uns war sofort klar, dass wir in dieser neuen Konstellation unglaubliches Potential haben. Roche hat sich dabei ordentlich angestrengt uns zu zeigen, wie sehr sie nicht nur unsere Produkte, sondern auch unseren Spirit und unsere Unternehmenskultur schätzen und auf jeden Fall erhalten wollen. Kurz gesagt: Die Chemie hat gestimmt, die Strategie war überzeugend und das Angebot war beeindruckend. Das komplette Management-Team bleibt erhalten und wir alle stehen voll und ganz hinter dieser Entscheidung.

Wie habt ihr die Verhandlungen erlebt? Habt ihr eure Kern-Forderungen durchsetzen können?

Die Verhandlungen waren sehr intensiv und lange. Speziell zwei der Gründer, Frank Westermann (CEO) und Michael Forisch (CCO), sowie unser COO Anton Kittelberger und Financial Director Bernd Guttmann haben die vielleicht intensivste Zeit in der Geschichte von mySugr hinter sich gebracht. Unsere Kernforderungen haben sich primär auf den Erhalt unserer Autonomie und Unternehmenskultur bezogen. Das war Roche genauso wichtig wie uns. Unsere Wünsche wurden ernst genommen und erfüllt. Wir sind mit dem Deal sehr glücklich und bleiben alle aus vollster Überzeugung noch lange Zeit dabei.

(c) mySugr: Die App in Aktion

Es ist mancherorts die Rede von einer Summe in der Größenordnung der Runtastic- und Shpock-Exits. Ist das so?

Wir sind international auf jeden Fall vorne dabei – es ist vermutlich der größte Digital Health Deal in Europa. Insgesamt sind wir glücklich, ein starkes Signal für den Digital Health Bereich zu senden. Eine konkrete Zahl können wir nicht nennen.

Redaktionstipps

Wie nahe ist euer Geschäftsmodell noch am ursprünglichen Konzept?

Das aktuelle Modell liegt ziemlich nah an dem, was wir uns vor 7 Jahren im Business Plan erdacht haben. Dazwischen gab es natürlich viele Experimente und Umwege. Im Endeffekt sind wir jetzt tatsächlich dort gelandet, wo unsere ursprüngliche Idee gestartet ist: Fokus auf den Endkunden, dann enge Partnerschaften mit Medtech und Pharmaunternehmen in unserem Gebiet und letztlich die Zusammenarbeit mit Krankenkassen mit dem Ziel der Kostenerstattung.

“Es war uns immer allen klar, dass die Reise auch hart wird. Ans Aufgeben haben wir aber nie gedacht.”

Gab es Zeitpunkte, wo ihr nahe dran wart, aufzugeben?

Wir hatten tiefstes Vertrauen, dass mySugr funktionieren wird. Es gab natürlich trotzdem alle möglichen Hochs und Tiefs – es war uns immer allen klar, dass die Reise auch hart wird. Ans Aufgeben haben wir aber nie gedacht. Speziell Hansi Hansmann hat uns in den unangenehmen Momenten die Stange gehalten und sich unsere größte Dankbarkeit und tiefsten Respekt verdient. Auch Gründer anderer Startups haben oft mit Rat und Tat geholfen – wir haben immer viel voneinander gelernt.

Lässt sich euer Konzept auch auf andere Krankheiten adaptieren? Werdet ihr das mit Roche machen?

Möglich wäre das bestimmt. Wir bleiben trotzdem bei Diabetes – dort liegt unsere Leidenschaft und Expertise. Etwa ein Drittel des mySugr-Teams lebt selbst mit Typ-1 Diabetes.

Steht dem medizinischen Bereich die große Phase der Disruption noch bevor? Was sind die großen Trends?

Fast alle großen medizinischen Entwicklungen steuern auf die personalisierte Gesundheitsversorgung zu. Das heißt Patienten erhalten Therapie-Lösungen, die in hohem Grad auf sie zugeschnitten sind und die sie im Idealfall sogar selber managen können. Die Buzzwords zu den technischen Trends dahinter sind etwa Big Data, Artificial Intelligence, Closed Loop Systeme (nur für Diabetes), Precision Medicine und mehr…

“Zieht euch warm an!”

Zuletzt: Was ist euer Rat an Gründer, denen Exit-Verhandlungen bevorstehen?

Warm anziehen.

+++ Built to exit: Lässt sich ein schneller Startup-Exit planen? +++


Die wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zum Exit aus Sicht von mySugr:

2010: – Die Idee & Vision wird geboren.

2011: – Das Gründerteam wird komplett.

2012: – Wir gewinnen das erste Pioneers Festival (damals noch Startup Week genannt). – Wir gewinnen Hansi Hansmann als Business Angel. – Launch von Version 1.0 der App.

2013: – Bernhard Schandl (CTO) kommt ins Team: Unsere Technik wird extrem stark. – Die ersten Kunden tragen unser Logo als Tattoo – kein Witz! – Wir launchen die Version 2.0 unserer App, sie wird ein einschlagender Erfolg.

2014: – Es entsteht das aktuelle Management, u.a. mit dem heutigen COO Anton Kittelberger

2015: – Investment (Series A) von Roche Ventures, iSeed Ventures und XL Health – Launch des ersten medizinischen Features, dem Insulinrechner.

2016: – Wir beziehen unser selbst geplantes Wiener Büro und stärken unsere offene Unternehmenskultur. – Erste nahtlose Integration von marktführenden Blutzuckermessgeräten. – Launch von Diabetes-Coaching in Echtzeit in der App.

2017: – Wir knacken die 1 Million Nutzer Marke. – Wir launchen unsere Rundumversorgung, das mySugr Paket, mit Versicherungen. – Wir werden Teil der Roche Familie.

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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