16.08.2021

Wenn die “freie Meinungsäußerung” zur Zumutung wird

In seiner aktuellen Kolumne beschäftigt sich Mic Hirschbrich mit dem Thema der "freien Meinungsäußerung" in den sozialen Medien und beleuchtet dies am Beispiel von Covid-19. Dabei schlägt er die Brücke von Voltaire bis hin zur Macht manipulativer News im 21. Jahrhundert.
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Mic Hirschbrich
Brutkasten-Kolumnist Mic Hirschbrich | Hintergrund: (c) Adobe Stock

Man denkt schon darüber nach, ob man so eine Headline der Redaktion abgibt. Aber sie beschreibt die Gefühlslage vieler. Wir begreifen uns als Verfechter einer liberalen Demokratie, treten für das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ein. Stolze Bildungsbürger zitieren vielleicht noch den französischen Vordenker der Aufklärung, François-Marie Voltaire, mit dem Satz: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Der Satz drückt in klarer Weise die Intention einer demokratischen Gesellschaft aus, niemanden für seine Meinung zu unterdrücken, sondern jede Meinung zuzulassen.

Philosophen wie Voltaire hatten noch kein Facebook. Sie waren im 17. und 18 Jhdt. noch nicht mit der heutigen Form von Desinformation und „Fake News“ (qualitativ wie quantitativ) konfrontiert, mit der wir uns heute herumschlagen und unsere Demokratie verteidigen müssen.

“Fake News” – Anglizismus des Jahres

2016 kürte eine deutsche Jury den Begriff „Fake News“ zum Anglizismus des Jahres. Das war auch richtig so, denn kaum ein Begriff wurde bei uns so konsequent und auch in den deutschsprachigen Breitenmedien so häufig benutzt wie er. Man beschreibt damit vorgetäuschte und manipulative Nachrichten, mit der die Quelle ein bestimmtes Ziel verfolgt. Das wäre alles gut und richtig so, hätte nicht ausgerechnet Ex-Präsident Donald Trump dem Begriff zum weltweiten Durchbruch verholfen, ihn aber dabei in seiner Wirkung verkehrt. Denn er nutzte ihn, um all jene Medien zu denunzieren und delegitimieren, die ihn einer Unwahrheit überführten. Das war sozusagen die Oberliga der Falschinformation. Die eigene Manipulation damit zu legitimieren, die andere Information als „Fake News“ zu „framen“ und soziale Medien zu nutzen, diese massentauglich zu machen.

Damit kann man offenbar nicht nur Präsidenten-Wahlen (in modernen Demokratien) gewinnen, sondern auch Menschen davon abhalten sich gegen eine globale Pandemie impfen zu lassen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung nutzend, hat sich eine gewaltige Manipulations-Dynamik ausgebreitet, die vor allem eines perfekt schafft: Misstrauen unter den Menschen zu säen. Misstrauen gegenüber dem Staat, den Institutionen, den Medien, bestimmten reichen Menschen, bekannten Menschen und praktisch allem, was in Verschwörungskreisen als „Mainstream“ ge-„framed“ wird.

Achja: Der meistzitierte Leitspruch der Aufklärung von oben, stammt übrigens auch nicht von Voltaire sondern aus einer Biographie über ihn, von der renommierten, aber stets im Hintergrund gebliebenen, Autorin Evelyn Beatrice Hall. Ich schrieb schon mal darüber. Peinlich irgendwie, dass ausgerechnet die semantische Speerspitze der Meinungsfreiheit in der westlichen Aufklärung ständig falsch zitiert wird und ein wenig selbst zu „Fake News“ wurde.

Von der Naivität in die Realität.

Viele von uns übertrugen das Recht auf freie Meinungsäußerung 1:1 auf die sozialen Netze. Auch ich schrieb einige Male dazu. Wir taten dies in guter Absicht. Denn die sozialen Medien versprachen nichts weniger als die Liberalisierung und Demokratisierung der (usergenerierten) Nachrichten und das weltweit, unabhängig von Politik und herrschenden Regimen. Eigentlich ein humanistischer Traum der Aufklärung, der wahrgeworden war. Dass wir Menschen diese wunderbare Innovation, neben all den sinnvollen Anwendungen, derart massiv zur Desinformation und Manipulation nutzen würden, konnte nicht vorhergesehen werden. Oder eigentlich konnte man es schon vorhersehen. Aber nicht, dass so viele Menschen Fake News auch glauben und deren Quellen nicht kritisch hinterfragen.

Über die Macht manipulierter News

Das CCDH (ein Institut, das sich dem Quantifizieren von Hassnachrichten verschrieben hat) hat herausgefunden, dass sechs von zwölf der großen „Anti-Impf-Accounts“ auf Youtube, für die Hälfte aller in Social Media geteilten Anti-Impf-Videos verantwortlich zeichnen. Es scheint also, dass die groß viral gehenden Manipulationen von ganz wenigen und besonders gut organisierten Gruppen ausgehen.

Ein Analyseteam aus der Biden-Administration zog den drastischen Schluss, dass diese Fake-News-Maschinen rund um die Covid-Impfungen schon zu viele „Menschen töten“ würde.

Fake-News Forscher Hany Farid über die späte Einsicht zur Gefahr.

Lange Zeit haben die (Online-, Anm.) Unternehmen Fake News geduldet, weil sie dachten: „Wen kümmert es, wenn die Erde flach ist, wen kümmert es, wenn Sie an Chemtrails glauben? Es schien harmlos zu sein“, sagte Hany Farid, ein Desinformationsforscher an der Universität in Berkeley, unter Bezugnahme auf eine seit langem bestehende Verschwörungstheorie über Kondensstreifen von Flugzeugen.

“Das Problem dieser Verschwörungstheorien, die vielleicht albern und harmlos erschienen, ist, dass sie zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Regierungen, Institutionen, Wissenschaftlern und Medien geführt haben, und das hat die Bühne für das geschaffen, was wir jetzt sehen.” Bei Covid scheinen die Folgen der gezielten Desinformation besonders gravierend zu sein.

Von Voltaire zur (wehrhaften) Medien-Demokratie

Seit Voltaires Ansinnen hat sich die Medien-Welt massiv verändert. Wir müssen heute Wege finden, dass dieses Recht des einzelnen Bürgers nicht dazu missbraucht werden kann, die Säulen der Demokratie mit struktureller und professioneller Manipulation anzugreifen.

Beim Thema Covid-19 wird das besonders sichtbar. Es ist unfassbar, was den Berufsmanipulatoren hier gelang: Denn bald kennt jeder von uns jemanden, der den Fake-News und Desinformations-Meldungen rund um Corona auf den Leim ging. Die sozialen und wirtschaftlichen Schäden deshalb sind enorm, denn wir hätten Corona schon gemeinsam überwinden können.

Viele Familien, Freundeskreise und Belegschaften in Unternehmen sind in diesem Thema gespalten oder sogar zerstritten. Und das obwohl:

  • wir unsere Gesellschaften seit Jahrhunderten vor Viren und Infektionen mittels Impfungen erfolgreich schützen (beginnend mit der Pockenimpfung 1796).
  • wir noch nie so viele Geimpfte weltweit bei einer Virenart hatten (bald 2,5 Mrd.).
  • es noch nie so geballte, globale Intelligenz im Einsatz gab, ein Virus zu bekämpfen.
  • es noch nie so gute Daten und so viel Geld für die Erforschung eines Impfstoffes gab,

… ist die fundamentale Gegenwehr zur Impfung von etwa einem Drittel der Menschen unermesslich und unerbittlich.

Wir reden hier übrigens nicht von Menschen, die Angst um sich und ihre Nächsten beim Thema Impfung haben und ehrlich besorgt nach Antworten suchen. Das ist mehr als legitim. Und diese Menschen gehören nicht belehrt oder abgekanzelt, sondern sachlich informiert, so ausführlich sie wollen und auf Augenhöge.

Wir reden vom Typus Mensch, Politiker und Eso-Aktivist, der uns selbstbewusst ins Gesicht sagt: „Ich weiß es besser als die wichtigsten Fachleute der Erde, besser als der Staat und renommierte medizinischen Einrichtungen und besser als ihr alle. (Nur) ich bin frei im Denken und glaube anderen Quellen als euren Mainstream und lehne daher auch eure Erkenntnisse und diese Impfung grundsätzlich ab. Ich pfeife auf den eigenen Schutz und die Solidarität der Gemeinschaft gegenüber. Sollte ich dennoch erkranken, weiß ich ja, der Sozialstaat darf mich nicht fallen lassen und wird sich um mich kümmern und mit ihm, ihr alle.“

Und ja, diese Form „der freien Meinungsäußerung“ empfinden immer mehr Menschen – zu Recht – als eine Zumutung!


Zum Autor

Mic Hirschbrich ist CEO des KI-Unternehmens Apollo.AI, beriet führende Politiker in digitalen Fragen und leitete den digitalen Think-Tank von Sebastian Kurz. Seine beruflichen Aufenthalte in Südostasien, Indien und den USA haben ihn nachhaltig geprägt und dazu gebracht, die eigene Sichtweise stets erweitern zu wollen. Im Jahr 2018 veröffentlichte Hirschbrich das Buch „Schöne Neue Welt 4.0 – Chancen und Risiken der Vierten Industriellen Revolution“, in dem er sich unter anderem mit den gesellschaftspolitischen Implikationen durch künstliche Intelligenz auseinandersetzt.

Tipp der Redaktion: Podcast Folge mit Mic Hirschbrich zum Thema Klimaschutz

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Rituale, Rituale der Startup-Welt, Ritual, Howard, Factinsect, Hadia, Storebox, Instahelp, monkee, Dental Armor, Coinpanion
(c) Hello Again/zVg/Hadia/Die Abbilderei/Storebox/schon nice gmbh/Victor Malyshev - (o.v.l.) Franz Tretter von Hello Again, Romana Dorfer von Factinsect, Anna Lauda von Hadia, Bernadette Frech von Instahelp/ Johannes Braith von Storebox, Saad Wohlgennannt von Dental Armor und Martin Granig von monkee.

Dieser Artikel ist im brutkasten-Printmagazin von Dezember 2024 erschienen. Eine Download-Möglichkeit des gesamten Magazins findet sich am Ende dieses Artikels.


Ein Pythonkopf aus Stein ragt aus der Dunkelheit hervor. In Kreisen angeordnete, farbenfrohe Speerspitzen verzieren den kalten Höhlenboden; manche davon stammen aus Hunderte Kilometer entfernten Gegenden. Am Ende der Höhle erstreckt sich ein kleiner, versteckter Raum, der Platz für eine Person bietet; üblicherweise versteckt sich ein Schamane darin und spricht zu seinem Stamm, sodass es scheint, die steinerne Schlange selbst lasse donnernde Worte erklingen.

Diese Verehrung des majestätischen Reptils fand vor rund 70.000 Jahren in der Kalahari-Wüste am Fuße der Tsodilo Hills im heutigen Botswana statt. Dies hat im Jahr 2012 die Archäologin Sheila Coulson herausgearbeitet und, so heißt es, damit das älteste wissenschaftlich belegte Ritual der Welt entdeckt.

Seitdem haben sich Rituale in Gesellschaften im Großen und Kleinen gehalten und weiterentwickelt – von religiösen Gepflogenheiten über politisches Zeremoniell bis hin zu privaten, sich wiederholenden Gewohnheiten sind sie in tausendfacher Weise etabliert. Das Küssen des Balls im Sport, das Aufstehen mit dem „richtigen Fuß“, Salz über die Schulter werfen, auf Holz klopfen, Dinge nicht verschreien, Braut und Bräutigam nicht vor der Hochzeit sehen, zu bestimmten Jahreszeiten fasten, den Jahreswechsel laut feiern oder die zum Ritual gewordene Morgen-Rou­tine wiederholen.

Spiritualität und Ordnung

All dies lässt sich komprimiert und per Definition in zwei Bedeutungen unterteilen: in eine spirituelle Handlung und in ein „wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung“. Exakt diese Ordnung (also die zweite Definition) ist es, die auch manchen Startup-Gründer:innen dabei hilft, den stressigen Joballtag zu bewältigen, Klarheit zu schaffen und Erfolge zu erreichen.

Sohlen und Poster

So zeigt sich etwa Johannes Braith vom österreichischen Scaleup Storebox als großer Anhänger davon, sich klare Ziele zu setzen und diese zu visualisieren.

„Dabei halte ich es für wichtig, einerseits eine große Vision zu definieren und diese in kleinere Meilensteine herunterzubrechen“, sagt er. „Diese verhältnismäßig kleinen Meilensteine sind leichter zu erreichen, greifbarer und man kann entsprechend auch früher Erfolge verbuchen. Das Wichtigste ist, konstant dranzubleiben. Erfolg ist kein Sprint, sondern ein Marathon.“

Das Visualisieren definierter Ziele wurde bereits früh als Ritual bei Storebox eingeführt: Im Office des Logistikunternehmens prangen Vision und Werte als Poster an der Wand und OKRs (Objectives and Key Results) werden in Echtzeit mittels Soll/Ist-Vergleich auf Bildschirmen angezeigt.

Zudem gibt Braith noch eine weitere Besonderheit aus seiner Ritualwelt preis: „Habe ich ein Etappenziel für mich definiert, schreibe ich es mir auf die Sohlen meiner Schuhe“, sagt er. „Das hilft mir, mich daran zu erinnern, dass jeder kleine Schritt zählt.“

Der Knopf des Erfolgs

Franz Tretter, Gründer des Kundenbindungs-Startups Hello Again, nutzt Rituale dazu, um Ziele und Kultur in seinem Team zu verankern. Dazu gehört ein „Global Success Button“, der bei jedem neuen Kunden gedrückt wird, mit anschließender Feier im Büro. Mitarbeiter:innen, die remote arbeiten oder unterwegs sind, werden per Mail oder Smartphone ebenso informiert; „einfach, damit man Bescheid weiß“, sagt Tretter.

Auch etwas namens „Howard 1000“ gehört zum regelmäßigen Ritual des Linzer Teams dazu. Dabei handelt es sich um eine Wand bestehend aus 1.000 Kästchen mit einer besonderen Bedeutung. „Wir haben diese aufgebaut, als wir 120 Kunden hatten. Mit jedem Kunden, den wir gewonnen haben, haben wir ein Logo hinzugefügt und haben nun knapp 900 Kästchen voll“, erklärt Tretter.

Und zu guter Letzt sind bei Hello Again die „Compliment Cards“ ein weiteres internes Ritual: „Wertschätzung ist total wichtig bei uns“, erklärt Tretter. „Wir haben eigene Kärtchen beim Eingang, da schreibt man gelegentlich etwas Nettes drauf und legt es am Abend Kollegen auf den Tisch. Die freuen sich am nächsten Morgen.“

An diesen beiden Beispielen bemerkt man bereits eine kleine Gemeinsamkeit, die zwischen den Zeilen mitschwingt: Wiederkehrendes, etwas Konstantes ist nicht bloß eine Orientierungshilfe für Startup-Gründer:innen, sondern kann als einer von mehreren Bausteinen eines spezifischen Mindsets gesehen werden; eines Mindsets, das von einem ruhigen Leadership-Skill zeugt und deutlich zeigt, dass manchmal das wilde Gefüge in einem selbst sowie auch das Äußere, das sich unter Mitarbeitenden am Arbeitsplatz entwickelt, gepflegt werden muss.

Gemeinschaft fördern

Das weiß auch Anna Maria Lauda von Hadia, einem Wiener Verein, der weibliches Unternehmertum in Afghanistan fördert. Ihr hilft eine tägliche zehnminütige Meditation, den Tag entschleunigt, entspannt und fokussiert zu beginnen.

„Dadurch kann ich klarere Prioritäten setzen und produktiver arbeiten“, sagt sie. „Früher lag mein Schwerpunkt vor allem auf individuellen Praktiken wie dem Selbstmanagement und der strikten Zeitplanung durch To- do-Listen. Doch im Laufe meiner Reise als Gründerin habe ich erkannt, dass Flexibilität und der wertvolle Austausch mit dem Team genauso entscheidend sind. Heute schätze ich Rituale, die nicht nur den persönlichen Fokus stärken, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl fördern.“

Daher veranstaltet Lauda wiederkehrende Onlinemeetings mit ihren Weberinnen in Afghanistan. „Regelmäßige Check-ins mit den Frauen sind inspirierend und motivierend. Allzu leicht verliert man in der Hektik des Alltags den Bezug zu den Menschen, für die man arbeitet. Und diese Gespräche erinnern mich daran, was unser gemeinsames Ziel ist und wie viel wir schon erreicht haben“, sagt sie.

Saad Wohlgenannt, Gründer und CEO des Zahn-Startups Dental Armor und der Kryptobörse Coinpanion, hatte im Lauf der Zeit verschiedene Rituale, die er jedoch mittlerweile fast alle ab- gelegt hat; darunter eine wöchentliche „Rückschau“, um zu überlegen, was er besser machen könnte, oder Journaling (Anm.: Blick nach innen mit schriftlicher Aufzeichnung, was in einem vorgeht).

Heute plant er an jedem Geburtstag, was er im kommenden Jahr erreichen möchte. Meistens setzt sich der Founder dabei ein monetäres Ziel für sein Business sowie ein paar persönliche Ziele, wie etwa einen neuen Sport zu erlernen, ein Land zu bereisen oder ein bestimmtes Problem zu lösen.

„Die wichtigsten Rituale, die mir langfristig helfen, meine Ziele zu erreichen, haben meistens den Effekt, mich kurzfristig vom Arbeiten abzuhalten“, sagt er. „Zum Beispiel beginne ich meinen Tag mit ein paar Mobility-Übungen, Liegestützen, Klimmzügen und einer kalten Dusche – erst danach schaue ich in meine E-Mails und starte richtig durch. Ab 20.30 Uhr ist mein Handy auf ‚Nicht stören‘, und dann bin ich nur noch schwer erreichbar.“

Drei und nicht mehr

Romana Dorfer beschäftigt sich mit ihrem Startup Factinsect damit, die Fülle an Fake News im Netz aufzulösen und User:innen gesicherte Informationen zur Verfügung zu stellen. Sie selbst hat sich früher oft viele, unspezifische und große Ziele vorgenommen, die jedoch innerhalb eines Tages kaum zu erreichen waren. Dabei waren Fortschritte nur schwer messbar und am Ende des Tages wurde kein Ziel erledigt, wie sie gesteht. Dadurch ist oft das Gefühl entstanden, wenig erreicht zu haben.

Heute greift sie maximal auf drei Vorhaben pro Tag zurück. „Der Vorteil ist, dass ich fast immer alle Ziele für den Tag erreiche und dadurch meine Motivation steigt. Meistens arbeite ich dann noch an weiteren Themen“, sagt Dorfer.

Bei Martin Granig, Gründer der Spar-App monkee und Vater einer siebenjährigen Tochter, sehen die Morgen oftmals chaotisch aus. Um dem entgegenzuwirken, hat er eine Morgenroutine entwickelt: „Ich stehe meist 30 Minuten früher auf. Das gibt mir die Gelegenheit, mich in Ruhe im Bad fertig zu machen“, sagt er. „Während des Zähneputzens mache ich ein paar Übungen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen, bevor ich Frühstück für meine Tochter und Kaffee für meine Frau und mich zubereite. So habe ich noch ein paar ruhige Momente für mich, bevor der Trubel beginnt.“

Am Ende seines Arbeitstags führt der Gründer einen kurzen Check-in durch und klärt für sich, was er heute schaffen möchte, was er tatsächlich geschafft hat und was er noch anpassen muss.

„Das hilft mir, mein Time-Boxing im Kalender zu optimieren, gerade für die Aufgaben, die zwar wichtig sind, aber erst in der Zukunft anstehen“, erklärt er. „Ich habe gelernt, dass es notwendig ist, solche Dinge bewusst zu planen, bevor sie von den dringenden, aber weniger wichtigen Aufgaben verdrängt werden.“

Raus aus der Bubble

Für Granig gibt es zudem noch ein persönliches Highlight der Woche: Freitagabend-Basketball. „Das mag zwar kein typisches Gründer-Ritual sein, aber für mich ist es essenziell. Es hilft mir, Stress abzubauen, den Kopf frei zu bekommen und in einer entspannten Atmosphäre mit Freunden zu lachen. Danach starte ich erfrischt ins Wochenende – und am Montag wieder voller Energie in die neue Woche“, so der Tiroler, der früher oft von „dringenden Dingen“ stark getrieben war, die dazu führten, dass wichtige strategische Aufgaben oftmals zu kurz kamen.

„Man arbeitet in so einem Fall zu viel ‚in the business‘ statt ‚on the business‘“, sagt er. „Heute habe ich meine Timeboxing-Routine deutlich verbessert, damit genau diese wichtigen Dinge nicht untergehen. Früher musste ich auch keine Rücksicht auf Familie und Kind nehmen. Das hat sich natürlich geändert, und ich musste Wege finden, trotz all der Verantwortung auch noch Zeit für mich zu schaffen. Daher meine Morgenroutine und mein Freitagabend-Basketball. Dort geht es einfach nur ums Spielen und um entspannte Gespräche über deutlich unkompliziertere Dinge als Startups, Karriere oder Business. Das tut gut und gibt mir Energie.“

Ankerpunkte fürs Wesentliche

Ähnlich ergeht es Instahelp-Founderin Bernadette Frech. Für die Gründerin des Grazer Health-Startups sind Rituale bewusste Ankerpunkte, um den Fokus auf dem Wesentlichen zu halten – im Beruf wie im Privatleben.

„Eines der wichtigsten Rituale habe ich mit meinen Kindern: Jeden Morgen beginnen wir den Tag mit einer vollen Minute Umarmung, ohne Worte, nur Nähe. Das stärkt unsere Bindung und gibt uns einen liebevollen Start in den Tag“, sagt Frech. „Abends reflektieren wir gemeinsam: Beim Rückenkraulen sprechen wir über Belastendes, bei der kitzligen Fußmassage teilen wir schöne oder lustige Momente und bei der Kopfmassage besprechen wir, wofür wir dankbar sind und was uns gut gelungen ist.“

Ambition vs. Balance

Auch bei ihr haben sich Rituale über die Jahre verändert und sich immer wieder ihren Lebensumständen angepasst. Früher, als berufliche Ambitionen im Vordergrund standen, hatten Frechs Rituale viel mit persönlicher Effizienz und beruflicher Zielerreichung zu tun. Heute, als dreifache Mama und Unternehmerin, haben sich die Prioritäten verschoben.

„Es geht mir jetzt viel stärker darum, eine Balance zwischen Karriere und Familie zu finden, ohne den Fokus auf meine eigene mentale Gesundheit zu verlieren“, erklärt sie. Das Ritual mit ihren Kindern sei ein Beispiel dafür, wie sich Rituale an neue Lebensphasen anpassen.

„Früher hätte ich vielleicht nicht gedacht, dass eine Umarmung am Morgen oder ein Ritual vor dem Schlafengehen so kraftvoll sein könnten. Heute sind es genau diese Momente, die mich erden und mir und meinen Kindern Energie geben“, erzählt sie. „Was sich jedoch nie geändert hat, ist meine wöchentliche psychologische Beratung. Sie ist seit Jahren eine Konstante, die mich sowohl beruflich als auch persönlich auf Kurs hält, auch wenn sich die Themen im Laufe der Zeit wandeln.“

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