19.03.2018

Chris Boos: Mit AI zur besseren Zukunft oder zur “Idiocracy”?

Mit Chris Boos trat ein Vordenker der Robotik und des maschinellen Lernens in Wien beim jährlichen "ÖAMTC Future Talk" auf. Er sprach über die Befreiung des Menschen durch die Automatisierung und die Notwendigkeit für die Automobilindustrie, sich mit innovativen Produkten und Services neu zu erfinden.
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Chris Boos
(c) ÖAMTC/APA-Fotoservice/Hörmandinger

Werden uns Roboter in puncto Denkleistung bald überholen? Sind Elon Musks Befürchtungen, wonach diese künstliche Intelligenz der Maschinen eine Bedrohung für die Menschheit darstelle, ernst zu nehmen? Oder wird der Gründer von u.a. Tesla und SpaceX, dem Millionen für die Umsetzung von technologischen Visionen zujubeln, unerhört bleiben – ein Kassandrarufer im schlimmsten Fall? Geht es nach Chris Boos, dürfen wir aufatmen. Der CEO der 1995 von ihm gegründeten Arago GmbH mit Sitz in Frankfurt, New York und dem Silicon Valley meint, dass ein tatsächliches Selbstbewusstsein der künstlichen Intelligenz derzeit nicht absehbar ist. Zwar werde immer wieder vor einer KI gewarnt, die uns alle (vorsätzlich) umbringt. Dem stelle er gerne ein anderes Beispiel gegenüber: “Den Roboter, der sagt: ‘Ich liebe dich’ – und der es auch so meint”. Beides ist laut Boos Fiktion: “Vielleicht ist das möglich – aber niemand weiß, wie”.

+++ Interview: “Wir werden die KI-Dividende ernten können” +++

Es gibt nicht die eine KI

Am 16. März 2018 sprach Boos, bevor er eine Keynote bei der Gala zum Automobilpreis “Marcus” hielt, im Rahmen des jährlichen “ÖAMTC Future Talk” darüber, wie künstliche Intelligenz die Mobilität verändern wird. Dabei stellte er u.a. klar, dass in der Diskussion drei Arten von Artificial Intelligence (AI) vermischt werden: die “Narrow AI”, die “General AI” und die “Super AI”.

“Wenn Sie statt der Tomaten Stangenbohnen setzen, wird diese Künstliche Intelligenz scheitern.”

Narrow AI umfasse das, was viele Startups machen: Die Entwicklung einer Insellösung zur Optimierung technologischer Abläufe. Etwa die Effizienz steigernde Überwachung und Steuerung einer Tomaten-Zucht im Glashaus: “Das mag recht gut funktionieren. Aber wenn Sie statt der Tomaten Stangenbohnen setzen, wird diese Künstliche Intelligenz scheitern, weil die Dinger einfach nicht rot werden”.

Die General AI kann sich selbst weiterentwickeln: “Je öfter sie angewandt wird, desto schneller lernt sie dazu”, führt Boos in die Grundlagen des “Machine Learning” ein. Und er legt damit auch Grenzen dar. Zwar können Computer Rechenleistungen weit über der Kapazität des menschlichen Gehirns bewältigen; abstraktes Problemlösen verlangt aber nach mehr: Es sind all die biochemischen Einflüsse, die auf das Gehirn wirken, die unser Denken mit ausmachen. Boos schließt daraus: “Eine wirklich funktionierende, umfassende KI benötigt eine Kombination aus vielen Technologien”. Auch wenn es von der General zur Super AI nur ein verhältnismäßig kurzer Weg wäre – weil dabei eine exponentielle, sich beschleunigende Entwicklung entstehen würde, sei aktuell nicht absehbar, ob und wann wir diesen Weg überhaupt finden.

Chris Boos beim ÖAMTC Future Talk:

Chris Boos
(c) ÖAMTC/APA-Fotoservice/Hörmandinger

Was automatisierbar ist, wird intelligent

In diesem Sinn beschränke sich die Ausbreitung der KI auf all jene Bereiche, in denen Abläufe automatisiert werden können. Womit selbstfahrende Autos ein logisches Anwendungsfeld darstellen. Gaspedal, Bremse, Schaltung und Lenkrad, motorische Kraftübertragung auf die Räder, dazu eine Reihe von Sensoren und Kommunikationsschnittstellen, gesteuert von einem Computer: Elon Musk nannte es Tesla und hat die Welt damit in Serie begeistert.

“Ein autonomes Fahrzeug sein Eigen zu nennen, wäre nicht zweckmäßig”

Chris Boos, der mit der Arago GmbH die Software HIRO entwickelt hat – das steht für “Human Intelligence Robotically Optimized”, denkt aber auf einer anderen Ebene: Es sei nicht primär das autonome Fahren, mit dem die krisengeschüttelte Automobilindustrie sich in die Zukunft rettet, sondern der Gedanke des “Sharing” und ihrer damit verbundenen Neuerfindung. Ein Auto zu besitzen sei ja eigentlich wenig effizient: Man hat verhältnismäßig lange Stehzeiten und einen raschen Wertverlust. Ein autonomes Fahrzeug sein Eigen zu nennen, wäre darum nicht zweckmäßig. Für den Konsumenten ergebe sich durch durch Miet- und Sharing-Konzepte sogar eine Ersparnis von bis zu 90 Prozent.

Die Zukunft des Autos heißt Vielfalt

Allein schon aufgrund der unterschiedlichen Ansprüche für verschiedene Fahrten entstehe künftig ein erhöhter Bedarf zum Modellwechsel, aber auch für neue Dienstleistungen. Wer über Nacht schlafend zu einem Businesstermin kutschiert werden will, um im Unterschied zum frühmorgendlichen Flug stressfrei und ausgeruht anzukommen, hat einen anderen Anspruch als eine Familie, die einen Ausflug in die Berge angeht. Diese Bedürfnisse zu erkennen und das eigene Geschäftsmodell mit neuen Produkten und Dienstleistungen anzupassen sei zugleich die Herausforderung und die Chance der klassischen Automobilproduzenten.

Nicht zielführend ist laut Chris Boos die Strategie, dass jedes Unternehmen von Grund auf sein eigenes selbstfahrendes Auto entwickeln will. Man sehe am Beispiel von Tesla, aber auch bei Google, dass Quereinsteiger das effizienter machen, und man habe es auch an der Einführung und Akzeptanz der Navi-Systeme gesehen: Nachdem Autohersteller teure Eigenentwicklungen etablieren wollten, waren sie ab einem gewissen Zeitpunkt gezwungen, günstige Lösungen von Google, Apple & Co. zu implementieren bzw. Schnittstellen zu schaffen – weil diese besser waren und die Kunden es verlangten.

Freiheit nutzen, oder “Idiocracy”? – “Wir können das selbst entscheiden”

Befreiung für neue Aufgaben

Der vielfach geäußerten Befürchtung, künstliche Intelligenzen könnten mit der weiteren Automatisierung viele Menschen den Job kosten, hält Boos entgegen: Jene Firmen, die in der Vergangenheit Personal gehalten statt zur kurzfristigen Kosteneinsparung abgebaut haben, hätten damit die Nase vorn. Wer auf neue Herausforderungen rasch reagieren muss, brauche einfach erfahrene Fachkräfte.

Tatsächlich wäre die Übernahme menschlicher Arbeit durch künstliche Intelligenzen allerdings eine Befreiung. Wenn die Gesellschaft bestimmte Aufgaben an Maschinen auslagert, werden Ressourcen frei, um ganz neue Problemstellungen anzugehen. Am Ende werde der Mensch sich entscheiden müssen, so Chris Boos: Wollen wir die neue Freiheit nutzen um uns darum zu bemühen, das in vielen Gegenden der Welt bestehende Elend zu verringern? Oder lehnen wir uns zurück, weil die Maschinen unsere Grundversorgung übernehmen, und entwickeln uns unter zunehmender Medienberieselung zur gut unterhaltenen “Idiocracy”? – “Wir können das selbst entscheiden”.

+++ Österreichische Artificial Intelligence Kompetenzträger im Überblick +++


⇒ Zur Page von Boos’ Unternehmen Arago

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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