22.01.2024

“Niemand will eine Rechnung ausdrucken, unterschreiben, scannen und zurückschicken”

Die Zukunft der Buchhaltung ist digital. Worauf es dabei ankommt, welche Rolle KI spielt und wie Österreich sich ein Beispiel an den nordischen Ländern nehmen kann, diskutieren Maurizio Poletto, Chief Platform Officer der Erste Group, und Jussi Pekkala, Director of Group Marketing & Branding der Visma Group, im Podcast "Unternehmen wir Zukunft".
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Digitalisierung der Buchhaltung im Podcast
Jussi Pekkala, Director of Group Marketing & Branding, Visma Group, brutkasten CEO Dejan Jovicevic und Maurizio Poletto, Chief Platform Officer, Erste Group | (c) brutkasten
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Viel Papier – das war über lange Zeit bei vielen die erste Assoziation, wenn es um das Thema Buchhaltung ging. Und diese Zeiten sind hierzulande noch nicht vorbei. Doch die Digitalisierung der Buchhaltung bringe Unternehmen nicht nur einen Wettbewerbsvorteil. Sie sei notwendig, um langfristig zu bestehen, meint Maurizio Poletto, Chief Platform Officer, Erste Group, im Podcast “Unternehmen wir Zukunft”.

“Viele KMU machen die Buchhaltung noch genau so, wie vor Jahrzehnten”

Bei den Kund:innen seiner Bank zeichnet er ein differenziertes Bild: “Die großen Unternehmen sind hier schneller. Unter den KMU gibt es einige Early Adopter. Viele machen die Buchhaltung aber noch genau so, wie vor Jahrzehnten.” So würden viele etwa auch aktiv ausgedruckte Rechnungen einfordern.

Maurizio Poletto, Chief Platform Officer, Erste Group (r.) im Gespräch mit brutkasten-CEO Dejan Jovicevic | (c) brutkasten

Nordische Länder klar voran

Deutlich weiter als Österreich sind in diesem Bereich die skandinavischen Länder, weiß Jussi Pekkala, Director of Group Marketing & Branding beim Business-Software-Anbieter Visma Group. “In Österreich funktionieren viele Dinge jetzt so, wie in den nordischen Ländern vor zehn bis 15 Jahren”, sagt er. Im Hintergrund stünden nicht nur Unterschiede in der Regulierung. Auch die Akzeptanz gegenüber neuen Technologien spiele eine entscheidende Rolle. Pekkala bringt die Rechnungslegung als Beispiel. “Es ist so viel Automatisierung möglich. Und eigentlich will bei uns niemand mehr eine Rechnung ausdrucken, unterschreiben, einscannen und zurückschicken. Das ist viel zusätzliche Arbeit, die niemand machen will”.

Auch Poletto sieht Skandinavien klar voran in der Digitalisierung. Einen Vorteil der nordischen Länder macht er unter anderem darin aus, dass die “Digital Identity” viel weiter fortgeschritten ist als etwa in Österreich. “Man kann mit sämtlichen Behörden leicht digital zusammenarbeiten. Das ist nicht nur effizient, sondern fördert auch das Vertrauen in das System”, so Poletto. Generell erwartet der Erste Group-Vorstand aber auch hierzulande große Fortschritte in nächster Zeit aufgrund der voranschreitenden EU-Regulatorik.

“Die Branche muss entsprechende Angebote liefern”

Gleichzeitig stellt Poletto aber klar: “Wir können die Digitalisierung nicht allein den Kund:innen umhängen. Die Branche muss entsprechende Angebote liefern. Es ist eine Diskussion zwischen den Unternehmen, zwischen Unternehmen und Regulierungsbehörden und zwischen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen”.

Es habe beispielsweise klar nachweisbare Vorteile, Kund:innen Rechnungen direkt digital aufs Smartphone zu schicken. “Papierrechungen bleiben oft liegen. Dann kommen Mahnungen und darauf folgen Diskussionen über die Mahnspesen. Zudem passieren häufig Fehler beim Abtippen. Das ist eine unnötige Komplexität. Wir sehen, wenn Kund:innen Rechnungen direkt aufs Smartphone bekommen, zahlen sie sehr schnell, sehr zuverlässig und es passieren kaum Fehler”, so Poletto. Auf Business-Ebene sei es nicht anders.

KI in der Buchhaltung: Gamechanger, aber kein Ersatz für Menschen

Auch in der Buchhaltung würden teilweise noch Schuhschachteln mit Rechnungen an die Steuerberatungen übergeben. “Wenn ich die Rechnungen dann digital habe, stellt sich die Frage: Sollen die von Menschen bearbeitet werden, oder von einer Künstlichen Intelligenz? Es ist für mich ein ‘No-Brainer’, dass das ein guter Usecase für AI ist”, sagt Poletto.

Auch bei der Visma Group arbeite man immer stärker mit Künstlicher Intelligenz, erklärt Pekkala: “Im Vordergrund steht natürlich, wie wir die Prozesse noch besser automatisieren und so ein besseres Service für unsere Kund:innen liefern können”. Man setze die Technologie auch stark im Kunden-Service und im Marketing ein. Und kann die KI auch den CFO ersetzen? “Ja, ich glaube das, aber es dauert noch”, meint Pekkala. Die Verantwortung müsse dabei aber dennoch geklärt sein.

Auch Maurizio Poletto erwartet umfassende neue Möglichkeiten mit KI in der Zukunft, mahnt aber ein: “Lasst uns nicht mit dem kompliziertesten beginnen, sondern mit den Basics”. Dass die KI einen CFO ersetzen kann, glaubt er übrigens nicht. “Sie ist ein starkes Werkzeug, wird aber keine guten Leute ersetzen”. Die Technologie werde letztlich die repetitiven Tätigkeiten übernehmen und es damit Mitarbeiter:innen ermöglichen, in ihrer Arbeitszeit mehr Mehrwert zu generieren. Und dank KI würden zukünftig mehr Informationen in besserer Qualität zu Verfügung stehen, um bessere Entscheidungen treffen zu können.

Integration anderer Lösungen als “Fundament der Automatisierung”

Bei der Erste Group verfolge man die klare Strategie, der Bankpartner für alle Unternehmen zu sein. “Wir wollen und können aber niemandem eine Lösung aufdrängen. Es gibt viele Lösungen im Markt und Schnittstellen zu anderen sind der Schlüssel zu einem guten Nutzererlebnis”, so Poletto. Am Ende gehe es bei der Nutzung von Technologie um die bestmögliche Praktikabilität für die Kund:innen. Auch bei der Visma Group sei das angesprochene Prinzip verankert, erklärt Pekkala: “Wir haben 200 bis 300 Integrationen in unseren Accounting-Systemen. Das ist ein Fundament der Automatisierung.”

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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