02.01.2019

Shenzhen, San Fran und der kleine Bruder Europa

China führt heute mit den großen Technologiemächten der Welt die vierte industrielle Revolution an. Wenn sich Künstliche Intelligenz, autonomes Fahren und synthetische Biologie zu einer nie dagewesenen Disruption treffen, wird die Weltmacht China eine Hauptrolle spielen.
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Europa
Welche Rolle wird Europa im Spiel der großen Kräfte einnehmen? (c) fotolia / fotogestoeber.

420 Milliarden Dollar sind die Unicorns – Startups mit über einer Million Dollar Bewertung – der USA heute wert, 287 jene Chinas, Europas knapp 60 Milliarden. Seit 2010. Seit 2017 sind es 92 Milliarden für die USA und 117 für China. In Europa waren es in den vergangenen beiden Jahren nicht einmal 30 Milliarden. Wovon einige wieder China nützen. Denn: Chinesische Unternehmen investieren seit einigen Jahren hohe Summen in die heißesten europäischen Technologie-Startups – so geschehen etwa in einer Series C Investmentrunde von N26, als der chinesischen Big Player Tencent Holdings 160 Millionen in die deutsche Challenger-Bank steckte. Tencent hatte im Jahr zuvor 8,6 Milliarden in das finnische Gaming-Unternehmen Supercell gesteckt und den Clash of Clans-Hersteller damit geschluckt.

Wo bleibt Europa im Kampf der großen Zwei?

Woher nimmt China die Kraft zur Innovation? Kann das bevölkerungsreichste Land der Welt seine Pläne zur technologischen Führerschaft umsetzen und wo bleibt Europa im Kampf der großen Zwei? Das sind Fragen, auf die die nächsten fünf Jahre Antworten bereit halten werden – müssen.

Allen Anzeichen nach werden sich alle großen Industrien weltweit gravierend verändern – die Autobranche etwa spürt die Disruption bereits kommen. Auch in der Forschung gibt es heute – zum Beispiel mit dem Erfolg der Künstlichen Intelligenz – Richtungen, die immer grundlegender für die Produkt-Entwicklung werden. Die beiden Bereiche Autoindustrie und Künstliche Intelligenz zeigen, wie unterschiedlich sich China im Gegensatz zu den USA und Europa gebärden.

„Made in China“ 2025: Mit Künstlicher Intelligenz an Platz Eins

Wenn es nach der chinesischen Regierung geht, ist China 2025 der dominanteste Spieler im Feld der Künstlichen Intelligenz – und heute schon sind die chinesischen Forscher Stürmer. Mit einem einzigartig klarem Strategiepapier, das im Juli 2017 vorgelegt wurde, drohen sie der heute erstplatzierten USA in vielen Bereichen davon zu laufen. Europa wird allen Schätzungen zufolge jedenfalls auf dem abgeschlagenen dritten Platz landen – der Rest der Welt wird es schwer haben. CB Insights sieht die Gründe dafür im Daten-Meer: 1,4 Milliarden Menschen, eine Regierung, die die Digitalisierung ihrer Abläufe extrem fördert und Unternehmen, die gelernt haben extrem rapide digital zu skalieren, haben chinesische Datenmeere geschaffen, in den es die KI-Algorithmen leicht haben, wertvolle intelligente Daten zu erzeugen, aus denen die dazugehören Digitalprodukte geschaffen werden. Das chinesische Wissenschaftsministerium will die KI-Welle mit ihren drei großen Industrie-Playern ausrollen: Baidu für selbstfahrende Autos, Alibaba für Smart City-Projekte und Tencent für Healthcare. 2017 implantierte ein chinesischer Zahnarzt-Roboter 3D-gedruckte Zähne ohne jedes menschliche Zutun.

Die großen Vertikals: China hängt USA ab, Europa sieht Chancen

„Die großen Firmen in den USA grasen jene Use-Cases ab, bei denen es Milliarden von Daten gibt. Da kann China nicht konkurrieren. Spezialisierte Daten, die US-Unternehmen gar nicht sammeln, werden China aber nach vorne schießen“, prophezeit AI-Austria Gründer und Automobilbranchen-Experte Clemens Wasner. In großen Vertikalen wie Healthcare, Automotive oder Smart City würden die Chinesen schon heute punkten. In der Heimatstadt des Handelsgiganten Alibaba, Hangzhou, sind Rettungsfahrzeuge zum Beispiel doppelt so schnell beim Einsatzort, Verkehrsflüsse 15 Prozent effizienter, als vor der Einführung von ET City Brain, Alibabas cloud-basierter Künstliche Intelligenz-Lösung für Smart Cities. Eine Untersuchung des Beratungsunternehmens Deloitte zeigt: 500 der knapp 1000 Smart City Initiativen sind in China gewachsen, auch wenn Europa beim Smart City Thema den Fuß in der Tür behält – etwa mit dem Sitz des Smart Data Lab in den Räumlichkeiten des Wiener Technologie-Startups Braintribe.

So liegen auch Europas Chancen in den großen Vertikalen. „Das nächste Google oder das Baidu wird nicht aus Europa kommen“, ist sich Clemens Wasner sicher. Die Frage sei eher, „ob wir es schaffen, dass die nächsten ARMs bei uns entstehen“, meint er und spricht dabei den den Erfolg des englischen Chipherstellers ACORN an, dessen ARM-Chips – heute in Händen von Softbank – heute eine höhere Marktabdeckung haben als Intel. Jede Industrien, in denen die europäischen Länder erfolgreich sind, werden zu Chancen für Künstliche Intelligenz. „Im Bereich Healthcare sind wir noch nicht einmal am Anfang uns vorzustellen, was alles möglich sein wird. Da sind dann Firmen wie Bayer extrem gut aufgestellt“, erklärt Wasner.

Automotive: Selbstfahrende, elektrische Fahrzeuge

„2006 war China in der Autobranche noch ziemlich unbedeutend. Man hat die chinesischen Autobauer auf den Autoshows eher belächelt“, weiß Clemens Wasner, der über 10 Jahre lang für den Automotive-Berater EFS in Asien tätig war. „Seit Warren Buffet damals bei BYD eingestiegen ist, hat sich das geändert.“ BYD war 2008 mit Tesla der einzige relevante Elektromobilitätshersteller. 2017 waren Buffets BYD-Anteile um 421 Prozent gestiegen.

Mitte des vergangenen Jahres kündigte der chinesische Google-Pendant Baidu seine offene Plattform für Lösungen rund um autonomes Fahren an. Apollo soll zum Android für selbstfahrende Fahrzeuge werden – mit BMW gibt es bereits Verträge. Autobauer wie Daimler und Ford beteiligen sich bereits an der Plattform – genauso wie Zulieferer Bosch, Continental oder Nvidia. 2020 sollen die ersten chinesischen Level 3-Fahrzeuge (Bedienung automatisiert, hauptsächlicher Einsatz auf Autobahnen) auf den Weltmarkt kommen.

Der kleine große Unterschied: SUVs für den Massenmarkt

Wo Europa heute eher Nischenfahrzeuge wie den BMW i3 oder kleine Elektrovarianten klassischer Modelle auf den Markt bringt, setzt China bei den „New Energy Vehicles“ auf „Auto ohne Kompromisse“, wie Wasner es ausdrückt. China würde Massenprodukte bauen, für den chinesischen Mittelstand. „Deswegen sind die Autos groß: Die müssen für die ganze Familie tauglich sein“. China, der SUV-Markt. Abgesehen vom Consumer-Produkt „werden schon heute außerdem Bus- und Taxiflotten werden im großen Stil umgestellt“, ergänzt Wasner.

Europas Fokus: CO2

Möchte Europa seine Klimaziele erreichen – das erste 2030: Minus 30 Prozent zum Jahr 2005 – dann würde an einem E-Auto-Boom nichts vorbeiführen, meint Clemens Wasner. Die Industrie weiß das: VW hat heute 20 E-Modelle in der Pipeline. Ansonsten setze die EU heute aber auf einen Technologie-Mix. Für Langstrecken sei etwa Wasserstoff im Gespräch. Für die Nicht Kernzone-Länder eher Erdgas. Beides in China, aber auch in USA weniger große Themen.

Dieser Beitrag erschien in gedruckter Form im brutkasten Magazin #7 “Die Welt in 5 Jahren”.

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


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