07.06.2024

Routine oder Freiheit? Von Kalenderblockern, Reportings und der Liebe zum Chaos

Fluch oder Segen, Einschränkung oder Spontanität? Das sagen österreichische Gründer:innen zu Routinen im Alltag.
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Johannes Braith, Sofia Surma und Felix Ohswald (c) Storebox, Isabella Simon, GoStudent

*Dieser Artikel erschien zuerst in der neuen Ausgabe unseres Printmagazins. Eine Downloadmöglichkeit findet sich am Ende des Artikels.


Augen auf, es ist 6:30 Uhr morgens. Keine Zeit, um unproduktiv zu sein. Noch drei Minuten im Bett liegen. Nicht mehr Schlummern, denn das ist ungesund und energieraubend. Tief einatmen, 15 Sekunden die Luft anhalten, ausatmen. Das ganze dreimal wiederholen. Check.

Aufsetzen. Rechter Fuß zuerst, dann links. Kurz strecken, Arme in die Luft und den Rücken ins Hohlkreuz. Gefolgt vom täglichen Schritt auf die Yogamatte. So wie immer. Jeden. Einzigen. Tag. Sieben Minuten Yogaübungen auf der Matte hingelegt. Check.

Achtung! Nicht gleich zur Kaffeemaschine, denn Koffein auf leeren Magen soll schlecht sein. Nochmal einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Aufstehen, Strecken und schnellen Schrittes unter die kalte Dusche. So wie immer. Jeden. Einzigen. Tag.

So – und nicht anders – soll es jeden Morgen sein. Denn Routinen geben Halt, Struktur und fördern Produktivität – oder geben zumindest das Gefühl, dass sie es tun.

Ja, Routinen. Der Feind von kreativen Köpfen und Freigeistern. Visionär:innen, Künstler:innen. Routine bedeutet sich wiederholend. Etwas Gängiges perfektionieren, sodass es keine Frage des Gedankens, der davor kommt, ist, sondern am Rande der Wahrnehmung passiert.

Früher war die Annahme, dass eine Person 21 Tage braucht, um eine Gewohnheit zu entwickeln. Dies wurde mittlerweile widerlegt. Phillippa Lally, Forscherin für Gesundheitspsychologie am University College London, hat bereits 2009 eine Studie im “European Journal of Social Psychology” zu dem Thema veröffentlicht. Darin arbeitete sie heraus, wie lange es tatsächlich dauert, bis eine neue Verhaltensweise “automatisiert” wird.

66 Tage bis zur Gewohnheit

96 Personen wurden über zwölf Wochen untersucht; jede mit einer neu gewählten Gewohnheit. Das Ergebnis: Im Schnitt dauerte es 66 Tage, bis eine automatisierte Routine eintrat. Dies kann je nach Person, Verhalten und Umständen abweichen und zwischen 18 und 254 Tagen betragen, der Durchschnitt jedoch zeigt etwas mehr als zwei Monate der Routineschöpfung.

Wo Routinen im privaten Alltag entwickelt werden, so bilden sie sich auch im Arbeitsleben heraus. Für manche das Um und Auf des Funktionierens, für andere eine Lästigkeit, die der Kreativität und Ideenentwicklung im Weg stehen.

Storebox-Founder Johannes Braith (c) Storebox

Für Johannes Braith, Gründer des Scaleups Storebox, sind Routinen eine Notwendigkeit für Erfolg.
“Ich arbeite mit Kalenderblockern, um unterschiedliche Routinen zu manifestieren”, sagt er.

“Einmal pro Woche versuche ich etwa eine große Runde durch unser Office zu machen, um mit Mitarbeiter:innen informell ins Gespräch zu kommen. Das tägliche Checken der wichtigsten Kennzahlen gehört ebenso zu meinem Programm. Privat habe ich kürzlich die 100 Push-Ups App von Florian Gschwandtner für mich entdeckt und versuche jeden Tag zumindest 100 Liegestütze in meinen Arbeitsalltag zu integrieren.”

Sofia Surma, Gründerin von Empovver (c) Isabella Simon

Sofia Surma, Founderin von Empovver, denkt bei Routinen indes gerne an ein Zitat von Albert Einstein. “Nichts kann existieren ohne Ordnung. Nichts kann entstehen ohne Chaos” steht auf ihrem “2024er Vision Board”: “Es trifft meiner Meinung nach den Kern der Herausforderung, wenn es um das Spannungsfeld zwischen Routine und Abwechslung, Ordnung und Chaos, geht. Ich glaube viele Meschen tendieren hier zu Extremen, was auf beiden Enden des Spektrums Chancen verbaut.”

Für sie ist es wichtig, flexibel zu bleiben und sich nicht zu stark an festgefahrenen Routinen zu klammern. Ein gewisses Maß an Chaos könne sogar von Vorteil sein, da es Kreativität, unkonventionelle Ideen und Offenheit für neue Möglichkeiten fördere, meint sie. “Ein zu striktes Festhalten an Routinen kann dazu führen, dass man sich anderen Potentialen verschließt und auf die Herausforderungen eines sich schnell verändernden Umfelds schlecht reagieren kann. Ein ausgewogener Mix aus Routinen und Flexibilität ist meiner Meinung nach der Schlüssel zum Erfolg.”

Routine-Extremisten als Problemfall

Surma gesteht, sie habe sich privat mehr auf Routinen eingelassen als im Beruf. Sie verfolgt ein Schlaf- und Stress-Tracking, beschäftigt sich regelmäßig mit Bewegung und Sport und kümmert sich um ihren Hund, der bestimmte Routinen wie die morgendliche Gassi-Runde einfach einfordert.

“Ich sehe den Wert von Routinen, aber ich halte mich nicht ausschließlich daran, weil ich fürchte, dass sie mich zu starr machen könnten”, erklärt sie. “Wer zu stark in den eigenen Routinen gefangen ist, wiegt sich meiner Meinung nach nicht nur im fälschlichen Gefühl, alles kontrollieren zu können, sondern macht es anderen oft schwer, mit einem zu arbeiten. Gerade in einem Teamgefüge, bei dem es unterschiedliche Bedürfnisse nach Routine gibt, können Extrem-Meinungen schädlich sein. Der Moment, in dem man durch die eigenen Routinen zu blind und unempathisch für die anderen Ansätze unterschiedlicher Personen wird, ist brandgefährlich.”

Selbstverständlich sei es ihrer Meinung nach als Gründer:in in der Anfangsphase eines Unternehmens entscheidend, einen klaren Kurs zu halten und den Blick auf das große Ziel nicht zu verlieren. Routinen und Gewohnheiten könnten dabei äußerst hilfreich sein, indem sie Struktur bieten und kontinuierlich in eine bestimmte Richtung lenken.

“Persönlich habe ich, geprägt durch meine langjährige Tätigkeit als Projektmanagerin, oft auf der überorganisierten Seite des Spektrums gestanden”, sagt sie. “Doch meine Reise als Gründerin hat meine Sichtweise etwas verändert. Durch meine Arbeit im agilen Projektmanagement habe ich einen umfangreichen Fundus an strukturierten Tools und Methoden angesammelt, um Arbeitsabläufe zu organisieren. Doch ich betrachte sie eher als eine Auswahlmöglichkeit für die Menschen, mit denen ich arbeite. Ähnlich wie bei gesunder Ernährung gibt es mittlerweile viele bewährte Ansätze. Dennoch ist die Wahl individuell und hängt von einer Vielzahl persönlicher Faktoren ab. Ich glaube daran, dass es wichtig ist, eine Auswahl zu haben und die richtige Balance zu finden, sowohl für sich selbst als auch für das Team. Bei Empovver konzentrieren wir uns auf regelmäßige Meetings, quartalsweise OKR-Planung mit Reflexionen und logistische Arbeiten, die kontinuierlich durchgeführt werden müssen. Zudem versuchen wir, eine Routine zu etablieren, um unsere Erfolge zu feiern, was bisher nur mäßig gelingt.”

“Am Erfolgspfad bleiben”

Ähnlich wie auch Surma sieht Braith Routinen als fixe Aktivitäten im Arbeitsalltag als erfolgsrelevant an. Er meint: “Durch regelmäßige und konstante Handlungen können ‘Habits’ entwickelt werden. Bei Storebox hat jede Abteilung bzw. Mitarbeitende definierte ‘Key-Activities’. Diese sind leicht messbar und beinhalten jene Aktivitäten, die direkt auf die definierten ‘Key-Results’ einzahlen. Da jene aber zeitverzögert eintreten und gemessen werden, helfen die ‘Key Acitivities’ dabei am Erfolgspfad zu bleiben.”

GoStudent Gründer Felix Ohswald (c) GoStudent

Neben Surma und Braith setzt auch ein Unicorn-Gründer auf eine Mischung aus Routine und Flexibilität: Die Tage von Felix Ohswald, Co-Founder des Wiener Unicorns GoStudent, sind geprägt von einer Mischung aus festen Routinen und flexibleren Zeitelementen. “Das hilft mir enorm, effizient zwischen meinen Rollen als CEO bei GoStudent und Studienkreis (Anm.: übernommenes Unternehmen aus Deutschland) zu wechseln”, sagt er. “Der Tag beginnt eigentlich immer gleich. Ich lese meinen Kindern vor und bringe sie dann in den Kindergarten. Das ist ein schöner, (meist) ruhiger Start in den Tag. Im Büro widme ich mich dann zuerst den aktuellen Themen und bereite mich auf die anstehenden Meetings vor.”

Es folgen 1:1 Meetings mit seinen Direct Reports, die entweder weekly oder biweekly stattfinden. Diese Gespräche seien unverzichtbar, um nahe am Team zu sein und wichtige Entscheidungen zu treffen.

Um den Kopf freizubekommen, nimmt sich Ohswald Zeit für ein Mittagessen, oft verbunden mit informellen Gesprächen – eine perfekte Gelegenheit, um sich auszutauschen, wie er betont.
Der Nachmittag des Founders ist wieder vollgepackt mit weiteren Meetings, darunter regelmäßige C-Level-Meetings und Sitzungen kleinerer Arbeitsgruppen, die sich mit den absoluten Key Priorities wie Produktentwicklung, Neukundengewinnung und Retention befassen. Abends verbringt Ohswald meistens Zeit mit Kollegen oder Familie.

Buch und Film für freie Köpfe

“Diese sozialen Interaktionen sind sehr wichtig für mich, um neue Ideen zu entwickeln und den Tag entspannt ausklingen zu lassen. Meine Tage enden oft mit etwas Lesen oder einem Film, was mir hilft, den Kopf frei zu bekommen und Notizen zu neuen Einfällen zu machen. Neben diesen festen Elementen sorge ich immer dafür, dass genügend Zeit für spontane Recherchen, Gespräche mit inspirierenden Menschen und die Entwicklung neuer Ideen bleibt. Diese Balance aus Struktur und Flexibilität ist für mich entscheidend, um auf die Bedürfnisse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzugehen und die dynamischen Themen im Unternehmen reagieren zu können”, sagt er.

Bei all seinen Gewohnheiten versucht Ohswald sich nicht zu sehr in Routinen zu verrennen, weil er findet, dass zu viel davon der Kreativität im Weg stehen kann: “Klar, Routinen sind super, um den Überblick zu behalten und sicherzustellen, dass alles Wichtige erledigt wird. Aber es ist mir auch wichtig, genug Flexibilität zu haben, um spontan auf Neues reagieren zu können und Raum für frische Ideen zu schaffen”, so sein Resümee. “Indem ich einen Mix aus festen Abläufen und freien Zeiten pflege, kann ich effizient arbeiten und gleichzeitig offen für Innovationen bleiben. Diese Balance zu halten, ist besonders wichtig, weil sich in der Tech- und Bildungsbranche ständig etwas ändert.”


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AI Landscape 2024, Wasner, Hochreiter
(c) Stock.Adobe/GamePixel - Die AI Landscape 2024 ist da.

Die Austrian AI Landscape von Clemens Wasner (EnliteAI, AI Austria) zeigt AI-Startups und -Unternehmen aus der heimischen Startup-Szene. Das Branding dazu wurde von Andreas M. Keck, Kopf und Gründer von “beamr. brand consulting studio” pro-bono durchgeführt. Es ist bereits die insgesamt achte Ausgabe der österreichischen KI-Landschaft.

AI Landscape 2024 wird größer als ihre Vorgänger

“Heuer gibt es 70 neue Unternehmen, ein Novum in dieser Größenordnung. Es ist ein internationales Phänomen, denn die Eintrittsbarriere für die Gründung eines KI-Unternehmens ist gesunken. Ein Grund ist, dass viele Basistechnologien als ‘open source’ verfügbar sind und nicht mehr von Grund auf selbst entwickelt werden müssen”, erklärt Wasner die gestiegene Anzahl an KI-Unternehmen in Österreich.

Besonders im Bereich “Corporate Early Adopters” zeigt sich eine starke Steigerung. “Unternehmen, die teilweise 100 Jahre alt sind, haben eigene AI-Business-Units aufgebaut, eigene Teams zusammengestellt und sind Joint Ventures eingegangen. AI ist schlussendlich in der Realwirtschaft angekommen”, so der AI-Experte weiter.

Die AI Landscape Austria 2024

(c) EnliteAI, AI Austria, Andreas M. Keck (beamr) – Die gesamte Austrian AI Landscape.

Cybersecurity-Bereich steigt

Allgemein ist festzustellen, dass sich – entgegen der letzten Jahre – mehr Firmen mit “Cybersecurity & Defence” beschäftigen. Die Gründe dafür sind, dass es einerseits, wie erwähnt, mehr Open-Source-Modelle gibt, auf die man zurückgreifen kann, ohne selbst Basis-Modelle entwickeln zu müssen. Andererseits hat der Ukraine-Krieg ein Bewusstsein für diese Branche geschaffen.

Die EU hat etwa am 15. März 2024 das Arbeitsprogramm für den European Defence Fund veröffentlicht. Die offizielle Ausschreibung wurde am 20. Juni geöffnet, eine Einreichung war bis zum 5. November 2024 möglich. Diese Ausschreibung war mit 1,1 Milliarden Euro dotiert, wovon 40 Millionen Euro für disruptive Technologien und 67 Millionen Euro für KMU vorgesehen sind.

AI Landscape: GenAI als Treiber

Einen anderen Faktor für die Steigerung der Anzahl an KI-Firmen in Österreich sieht Wasner darin, dass viele Unternehmen in der Vergangenheit auf Automatisierung gesetzt hätten. Belege erkennen, den E-Mail-Posteingang lesen und ins CRM schieben – das sei mit der eigenen Technologie natürlich limitiert gewesen, durch Generative AI und LLMs (Large Language Models) wären nun sehr viele in diesem Bereich tätig. “Das ist etwas, das weltweit parallel passiert”, so Wasner. “Und Chatbots oder Dashboards beinhaltet.”

Auch bemerkenswert ist, dass im Bereich “Life Science” mittlerweile 30 Unternehmen aus Österreich vertreten sind. Für den KI-Experten “wenig verwunderlich”, da es hierzulande mit LISAvienna, INITS und mit dem Science Park Graz gleich drei Ökosysteme gibt, die in diesem Feld “Firmen produzieren”.

Zudem ist der Proptech-Bereich auffällig stark geworden, was wiederum an der Nutzung von LLMs liegt, zum Beispiel wenn es um die Auswertung von Dokumenten rund um Bauprojekte geht. Überall dort, wo man auf unstrukturierte Daten treffe – Baupläne, etc. – sei nun GenAI vermehrt einsatzbar und das ganze Proptech-Feld gehe “durch die Decke”. Insgesamt, so Wasner, gebe es heuer einfach mehrere große Themenfelder in der heimischen AI Landscape.

Beachtlich sei zudem, dass in der KI-Branche wenig Firmen pleite gegangen sind. “Dieses Jahr habe ich im Vergleich zum Vorjahr nur drei, vier Firmen herunternehmen müssen”, sagt er. “Davor waren es rund 30.”

Doch der KI-Experte warnt vor zu großer Euphorie. Er sieht den Moment jetzt als “Ruhe vor dem Sturm” und erwartet eine Konsolidierungswelle für das kommende Jahr. In diesem Sinne prognostiziert er einen Akquise-Trend, der uns bevorsteht. Größere Firmen würden, so seine Einschätzung, Unternehmen aus der Sparte “Operations & Search” aufkaufen, weil sich deren Angebot als replizierbares Business für Dienstleister auszeichne (Knowledge-Management, Bots, Suche mit LLMs).

Mehr Deregulierung, aber…

Was den europäischen Standort betrifft, wünscht sich Wasner mehr Deregulierung, allerdings nicht unbedingt auf der KI-Seite, wie er sagt. Europas KI-Problem liege vor allem im Umstand begründet, dass es hier schwieriger sei, zu gründen bzw. etwa Mitarbeiterbeteiligungen schwerer zu implementieren wären. “In Europa gibt es 27 Rechtsformen bei der Unternehmensgründung, das ist einfach nicht ‘investible'”, sagt er. Auch seien die Finanzierungen zu gering, vor allem dann, wenn man eine KI-Foundation baue. Mistral aus Frankreich wäre da der einzige Ausreißer, was europäische Top-KI-Firmen betreffe.

Als zweiten Punkt nennt Wasner, dass sich die “Compute-Infrastruktur” als zu klein für den europäischen Raum zeige und es von der EU-Seite Investitionen von mindestens 20 Milliarden Euro – wenn nicht mehr – bräuchte, um im KI-Konzert der Großen eine Chance zu haben. Der dritte und letzte Faktor, den Wasner in Sachen Wettbewerbsfähigkeit erwähnt, ist, auf “skilled immigration” zu setzen, um die besten Talente ins Land zu holen, wie er sagt: “Das allerdings geht nur, wenn man die ersten beiden Punkte löst.”

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