02.06.2021

Nuri-CEO Walcker-Mayer: So wollen wir Krypto aus der Nische holen

Das Berliner Fintech Bitwala hat sich in Nuri umbenannt - und will damit auch weg vom kurzfristig orientierten Trading, hin zum langfristigen Vermögensaufbau. Wir haben bei Nuri-CEO Kristina Walcker-Mayer nachgefragt.
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Nuri-CEO Kristina Walcker-Mayer
Nuri-CEO Kristina Walcker-Mayer | Foto: Nuri

2015 startete das Berliner Fintech Bitwala mit dem Anspruch, den Kauf von Bitcoin möglichst einfach zu gestalten. Vom Trading-Image will das Unternehmen allerdings mittlerweile weg – und setzte einen radikalen Schritt, um die Neuausrichtung offensiv zu vermitteln: Seit Mitte Mai heißt das Unternehmen, wie berichtet, nicht mehr Bitwala, sondern Nuri.

Damit einher ging eine völlige Neugestaltung des Markenauftritts und der eigenen Plattform – bei dem Wörter wie “Trading” oder “Portfolio” gestrichen wurden. Lieber spricht man bei Nuri von langfristigem Vermögensaufbau und sieht sich als Neobank. Erklärtes Ziel des Rebrandings: Ein breiteres Publikum über die klassische Krypto-Zielgruppe hinaus anzusprechen.

Für aktive Trader ist die Auswahl bei Nuri aber wahrscheinlich ohnehin zu eingeschränkt – das Unternehmen bietet nur die beiden größten Kryptowährungen Bitcoin und Ethereum an. Eine Besonderheit ist dagegen das sogenannte Bitcoin-Ertragskonto – über das man seine Coins gegen Gebühr verleihen kann und dafür Erträge erhält. Das Fintech stellt dafür bis zu 5 Prozent pro Jahr in Aussicht. Abgewickelt wird dies über das Londoner Krypto-Unternehmen Celsius, das ein Netzwerk für Krypto-Kredite betreibt. Die Ertragsrate, die ein Kunde erzielen kann, ist variabel und richtet sich nach der Marktnachfrage. Die Auszahlungen erfolgen wöchentlich.

Mit dem Rebranding will Nuri seine Produktpalette nun erweitern. Der brutkasten hat bei Nuri-CEO Kristina Walcker-Mayer nachgefragt – sie hat den Chefposten im April übernommen, nachdem sie zuvor Chief Product Officer (CPO) war. Zuvor war sie bei N26 und Zalando ebenfalls im Produktbereich tätig.

Bitwala hat sich in Nuri umbenannt und sich einen neuen Auftritt gegeben, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Sind Kryptowährungen derzeit noch zu sehr in einer Nische?

Kristina Walcker-Mayer: Das Interesse und damit auch unsere Nutzerzahlen steigen, allerdings sind wir noch nicht vollständig in der breiten Masse angekommen. Das ist bei neuen Technologien aber ganz normal. Ich habe beispielsweise 2010 angefangen, Mobil-Apps zu bauen. Selbst vier, fünf Jahre später haben wir noch festgestellt, dass Nutzer zwar sehr viel mobil browsten, aber bei Käufen noch zurückhaltend waren, weil sie “mobiles Internet für unsicherer” hielten.

Ähnlich ist es jetzt bei Blockchain. Technologien müssen gewisse Phasen durchlaufen, bis sie auch bei unseren Müttern und Onkeln ankommen. Das kann ein paar Jahre dauern. Wir wollen den Weg dorthin ebnen und es einer breiteren Zielgruppe erleichtern, in Krypto zu investieren.

Uns ist auch das Thema Bildung und Guidance sehr wichtig. Auch da kann man wieder das Beispiel E-Commerce heranziehen: Wenn man 50 Euro verliert, weil ein bestelltes Kleid nicht ankommt, ist das zwar blöd, aber man nimmt es vielleicht eher in Kauf und probiert ein neues Produkt oder einen neuen Service aus, als wenn es um Geldanlage geht. Da sind die Leute generell risikoaverser. Im gesamten Fintech-Bereich haben die Leute Angst, ihr Geld zu verlieren und wollen mehr Information und Sicherheit, bevor sie Geld anlegen.

Schätzen die Menschen das Risiko von Kryptowährungen also falsch ein?

Ich stoße immer wieder auf Medienberichterstattung, in der beispielsweise regelrecht vor Kryptowährungen gewarnt wird und das Risiko von Kryptowährungen höher eingestuft wird, als jenes von Aktien. Aber wenn man Einzeltitel kauft, kann das genauso volatil sein. Diese einseitige Berichterstattung beeinflusst die Leute dann auch. Daher finden wir es wichtig, Aufklärung zu betreiben und zum Beispiel darauf hinzuweisen, dass man seine Anlagen streuen soll. In einem gut diversifizierten Portfolio wirken sich Kryptowährungen eher positiv aus wie man in Finanzstudien mittlerweile erkennen kann.

Die Kryptobranche gilt als männlich dominiert. Was kann man tun, um Frauen stärker anzusprechen?

Es gibt diverse Studien, die belegen, dass Frauen ein großes Interesse für das Thema Krypto aufweisen, aber den letzten Schritt zum Investment nicht machen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Einerseits haben sie häufig das Gefühl, dass ihnen relevante Informationen fehlen und sie nicht einschätzen können, ob der Anbieter vertrauenswürdig ist. Andererseits zeigt die Mehrheit der Frauen auch grundsätzlich ein anderes Anlageverhalten auf – sie gehen strategischer vor und wollen sich langfristig orientieren. Bei Krypto stand aber in der Vergangenheit häufig der Trading-Gedanke im Mittelpunkt. Davon wollen wir weg. Bei Krypto-Investments kann man genauso eine langfristige Strategie verfolgen wie bei ETFs. Unterjährig gibt es eine Volatilität wie eben bei Aktien oder ETFs auch, aber langfristig steigt der Preis. Wir arbeiten daher an Krypto-Sparplänen, um regelmäßiges Investieren zu ermöglichen.

Zusätzlich stellt sich die Frage, wie man ein Produkt ansprechender gestaltet. Die meisten Finanzplattformen sind sehr technisch – von der Farbgebung über die Sprache bis zu den Bildern. Sie sind auf eine eher männliche Zielgruppe ausgerichtet, was vielleicht vor 30 Jahren berechtigt war, aber mittlerweile nicht mehr. Uns geht es nicht nur darum, Frauen zu erreichen, sondern unter Diversität verstehen wir auch unterschiedliche Wissenstände in Sachen Finanzen, Herkunft, kultureller Background, Alter, verfügbares Vermögen. Wir sehen es als unseren gesellschaftlichen Auftrag, ansprechender zu werden. Wenn sich alle Plattformen nur an Männer in einer spezifischen Nische richten, dann ändert man gesellschaftlich auch nichts.

Du hast bereits angesprochen, dass es euch wichtig ist, Aufklärung zu betreiben, wie man richtig anlegt. Welche Aspekte wollt ihr dabei vor allem vermitteln?

Krypto wird oft in die Zocker-Nische hineingepresst. Wir wollen die Menschen aber dazu bringen, dass sie ihr Geld langfristig zurücklegen und ihnen sagen: Wenn ihr das strategisch angeht, baut ihr euch langfristig ein Vermögen auf. Zocken dagegen geht meistens nicht gut, damit sollte man also lieber gar nicht erst anfangen. Es gibt immer mehr Apps, die diesen Gamification-Ansatz verfolgen, wie etwa Robinhood in den USA oder BUX in den Niederlanden. Leider verzocken junge Leute häufig die paar Euro, die sie angespart haben. Wir vermeiden mittlerweile Begriffe wie Trading und Portfolio völlig und sprechen stattdessen mehr über Vermögen.

Welche Produkte sind in diese Richtung in Zukunft geplant?

Wir planen in Zukunft ganz unterschiedliche Produkte zu launchen – aber im ersten Schritt geht es um Vermögensaufbau. Wir arbeiten an einem Produkt, das in eine ETF-ähnliche Richtung geht. Decentralized Finance (DeFi) ist auch ein Thema – beispielsweise die Frage, wie ich die Vorteile von Staking für Stablecoin-Lending so einfach verpacken kann, dass sie jeder nutzen kann. Details kann ich aber noch nicht verraten.

Viele in der DeFi-Bewegung haben den fast revolutionären Anspruch, ein komplettes dezentrales Finanzsystem aufzubauen und sämtliche Mittelmänner wie beispielsweise Banken überflüssig zu machen. Wie passt dieser Ansatz mit einer Neobank wie Nuri zusammen und wo seht ihr eure Rolle?

Bei DeFi braucht es keine Intermediäre mehr, das System ist “trustless” – das Vertrauen wird also durch Code ersetzt. Mit den Intermediären im Finanzsystem gibt es aber nicht nur ein Vertrauensproblem oder ein Single-Point-of-Failure-Problem, sondern auch ein Kostenproblem. Durch diese Intermediäre werden viele Finanzprodukte sehr teuer. Das hat den Vorteil, dass das gesamte System viel effizienter werden könnte – und damit auch wesentlich kostengünstiger. Es lassen sich auch höhere Renditen erzielen als in der traditionellen Finanzwelt. Aus Nutzersicht gibt es sehr viele Vorteile und die wollen wir unseren Kunden zugänglich machen.

Heute, Stand 2021, sind die Tage von Traditional Finance gezählt. Am Horizont sehen wir ein neues Finanzsystem, das revolutionär sein wird, das aber noch nicht ganz in unserem Alltag angekommen ist. Für die Miete und die Stromrechnung brauche ich noch das traditionelle Finanzsystem. Wir sehen unsere Rolle darin, diese beiden Welten zu vereinen und unseren Nutzern “the best of both worlds” zu bieten.

Ihr bietet ein vollumfängliches Bankkonto an. Ist es euer Anspruch, dass Nuri künftig auch als Hauptkonto für eure Kunden fungieren soll?

Wir würden uns darüber sehr freuen. Wir bieten das Bankkonto schon sein einigen Jahren an, aber haben es nicht so offensiv kommuniziert, weil wir uns zunächst auf andere Themen fokussiert hatten. Aber wir haben uns ja bewusst dafür entschieden, nicht nur ein Depotkonto anzubieten, sondern ein vollwertiges Bankkonto – daher ist es auch unser Anspruch, das jetzt richtig ansprechend zu machen. Kein Kunde will zehn verschiedene Banking-Apps auf dem Handy haben.

Nuri verdient über eine Gebühr beim Kauf- und Verkauf von Kryptowährungen. Das normale Bankkonto kann ich aber auch verwenden ohne Kryptowährungen zu kaufen. Wie ist hier das Geschäftsmodell?

Dass man mit einem normalen Bankkonto heute kein Geld verdient, ist kein Geheimnis. Man könnte natürliche Features wie einen Überziehungskredit integrieren, aber es ist nicht unser Fokus, mit dem Bankkonto Geld zu verdienen. Langfristig könnte man über Premiumkonten nachdenken. Aber auch dies wäre aus Nutzersicht getrieben – indem man sich die Frage stellt, wo ist der Pain so groß, dass ein Premium-Angebot gerechtfertigt wäre. Beispielsweise könnte man sich bei unserem Krypto-Steuerreport überlegen, ob er vielleicht langfristig ein Premiumprodukt ist. Aber an diesem Punkt sind wir momentan noch nicht. Wir sehen das Konto derzeit auch eher als ein Mittel zur Generierung von Neukunden.

Ihr bietet derzeit nur die beiden größten Kryptowährungen Bitcoin und Ether an. Wollt ihr euer Angebot in Zukunft ausbauen?

Wir verfolgen einen stark kuratierten Ansatz. Viele Neobroker überwältigen Kunden mit ihrem Angebot und die sehen dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Wir prüfen immer, was unsere Kunden wollen und derzeit ist die Nachfrage vor allem nach diesen beiden Währungen da. Basierend auf der medialen Berichterstattung könnte man beispielsweise meinen, dass Dogecoin wichtiger ist als alles andere. Aber wenn man sich die Zahlen der großen Krypto-Plattformen ansieht, die Dogecoin im Angebot haben, ist das eigentlich zu vernachlässigen.

Nuri wurde 2015 unter dem Namen Bitwala von Jan Goslicki, Benjamin Jones und Jörg von Minckwitz gegründet. Das Fintech hat nach eigenen Angaben über 200.000 Kunden und ist in 32 europäischen Ländern aktiv – darunter auch Österreich. Im Zuge des aktuellen Krypto-Booms sind im ersten Quartal 2021 rund 50.000 Neukunden dazugekommen. Die Belegschaft ist in den vergangenen sechs Monaten um mehr als 50 Prozent auf 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewachsen.
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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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