09.06.2023

MiCA: Das sind die Grundlagen zur neuen Krypto-Verordnung der EU

Gastbeitrag. Rechtsanwalt und Kryptoexperte Oliver Völkel beleuchtet in einer brutkasten-Serie die neue EU-Krypto-Verordnung Markets in Crypto-Assets, kurz MiCA. Im ersten Teil geht es um Anwendungsgebiete und zentrale Begriffe.
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Rechtsanwalt Oliver Völkel vor einer EU-Flagge
Rechtsanwalt Oliver Völkel | Foto: Stadler Völkel Rechtsanwälte & Adobe Stock (Hintergrund)

Am 9. Juni 2023 wurde die europäische Verordnung über Märkte für Kryptowerte (kurz MiCA-VO) im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Nach mehrjährigem zähem Ringen ist sie damit endlich Bestandteil des Unionsrechts und wird nach Ablauf einer Übergangsfrist ab 30. Dezember 2024 in allen Mitgliedstaaten der EU unmittelbar gelten.

Mit MiCA besteht nun erstmals ein unionsweit einheitlicher Rechtsrahmen für das öffentliche Angebot von Kryptowerten und das Anbieten von Kryptowerte-Dienstleistungen. Neben umfangreichen Regeln zu diesen beiden Aspekten finden sich in der Verordnung auch Bestimmungen über die Verhinderung von Marktmissbrauch und Insiderhandel.

Mit dieser Beitragsreihe möchten wir möglichst umfassend aufzeigen, welche neuen Regeln in der Krypto-Branche zu beachten sind, und was dies für bestehende Akteure am Markt bedeutet. Im ersten Teil der Reihe widmen wir uns dem Anwendungsbereich der MiCA und zeigen auf, für wen und in welchen Fällen MiCA grundsätzlich gilt. Wir behandeln weiters den zentralen Begriff des Kryptowerts und beleuchten, welche Arten von Coins und Token erfasst sind. Wir adressieren die wichtigsten Ausnahmen vom Anwendungsbereich und untersuchen, wann die MiCA-VO nicht gelten soll. Außerdem diskutieren wir, welche neuen Kryptowerte von MiCA geschaffen werden und was diese Kryptowerte jeweils auszeichnet.


Grundlagen zur MiCA-Verordnung

Anwendungsbereich

MiCA erfasst alle natürlichen und juristischen Personen, die in der Europäischen Union Kryptowerte ausgeben, öffentlich anbieten, zum Handel zulassen möchten, oder wenn sie Dienstleistungen im Zusammenhang mit Kryptowerten erbringen möchten:

  • Ausgabe ist der erstmalige Verkauf oder das sonstige erstmalige Inverkehrbringen eines Kryptowerts durch einen Emittenten. Das kann, muss aber nicht im Rahmen eines öffentlichen Angebots erfolgen. 
  • Ein öffentliches Angebot liegt rasch vor: Jede Mitteilung ist ein öffentliches Angebot, also zB auch der Inhalt einer Website, wenn sie ausreichend Informationen über die Angebotsbedingungen und die anzubietenden Kryptowerte enthält, um eine Kaufentscheidung zu ermöglichen. Ein öffentliches Angebot kann also nicht nur vom Emittenten, sondern von jedem gemacht werden, der den Kryptowert (weiter-)verkauft. 
  • Zulassung zum Handel bedeutet, dass der Kryptowert an einer Handelsplattform in der Union gelistet werden soll. MiCA kann somit selbst dann einschlägig sein, wenn weder der Emittent seinen Sitz in der Union hat (keine Ausgabe) noch ein öffentliches Angebot in der Union erfolgt. 
  • Dienstleistungen sind die Verwahrung und Verwaltung von Kryptowerten, der Betrieb einer Handelsplattform, der Tausch von Kryptowerten gegen Geld oder andere Kryptowerte, die Ausführung von Aufträgen, die Platzierung, die Annahme und Übermittlung von Aufträgen sowie die Beratung und die Portfolioverwaltung.

Der Anwendungsbereich erfasst somit ein weites Spektrum der am Markt bekannten Tätigkeiten. Greift eine Ausnahme vom Anwendungsbereich (siehe weiter unten), oder ist eine Tätigkeit nicht in MiCA reguliert, so ist die Verordnung nicht einschlägig. Solche Tätigkeiten können also ohne Beachtung der Bestimmungen in MiCA ausgeübt werden.

Begriff des Kryptowerts

Zentraler Begriff der MiCA ist der Kryptowert. Zu diesem Begriff enthält die Verordnung eine eigene Definition. Kryptowert ist jede digitale Darstellung eines Werts oder eines Rechts, der oder das unter Verwendung von DLT oder einer ähnlichen Technologie elektronisch übertragen und gespeichert werden kann. Dieser breite Begriff erfasst alle gängigen Coins und Token wie etwa die im Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Beitragsreihe (im Hinblick auf ihre Marktkapitalisierung) zehn bedeutsamsten Kryptowerte: Bitcoin, Ether, Tether, Binance Coin, USDC, Ripple, Cardano, Dogecoin, Polygon oder Solana.

Um als Kryptowert zu gelten, muss der Coin oder Token lediglich entweder über einen Marktwert verfügen (digitale Darstellung eines Werts) oder ein Recht im weitesten Sinn repräsentieren (digitale Darstellung eines Rechts). Der Begriff ist damit deutlich weiter als der im Jahr 2020 im EU-Recht eingeführte Begriff der virtuellen Währung, der im Kern bloß auf den Umstand abstellt, dass ein Coin oder Token als Tauschmittel am Markt akzeptiert wird. Alle heute bekannten virtuellen Währungen sind auch Kryptowerte unter MiCA.

Liegt keines der beiden oben genannten Charakteristika vor (Darstellung von Wert oder Recht), so ist ein Coin oder Token kein Kryptowert. Das ist etwa bei Tokens der Fall, die im Rahmen von Veranstaltungen kostenlos als Souvenir ausgegeben werden (solange sich kein Markt dafür bildet) oder bei Tokens, die als reine Recheneinheit innerhalb eines Smart Contracts dienen, nicht übertragbar sind, oder sonst keinen Marktwert aufweisen.

Ausnahmen vom Anwendungsbereich

Vom Anwendungsbereich der MiCA bestehen eine Reihe von Ausnahmen. Die Ausnahmen beziehen sich dabei entweder auf den Einsatzzweck des Kryptowerts (zB NFTs, Finanzinstrumente) oder die jeweiligen Akteure (zB Reverse Solicitation, Konzernausnahme):

  • Non-fungible Tokens (NFTs) sind vom Anwendungsbereich der MiCA ausgenommen, allerdings nur dann, wenn es sich um tatsächlich individualisierte Kryptowerte handelt. Gemeint ist damit zB ein NFT-Kunstwerk. Wird ein NFT-Standard wie etwa ERC-721 oder ERC-1155 genutzt, um zB NFT-basierte Gutscheine aufzulegen, so greift die Ausnahme nicht. In diesem Fall sind die Tokens nach ihrem bestimmungsgemäßen Gebrauch nämlich miteinander austauschbar, also doch fungibel. Solche Tokens können zwar auch NFT genannt werden, weil sie den entsprechenden technischen Standard nutzen, die Ausnahme von MiCA greift aber nicht. Man könnte auch sagen: Unter MiCA gilt ein materieller und nicht bloß ein formeller NFT-Begriff. Das Abstellen auf bestimmte technische Standards kann also in der Praxis nicht dazu genutzt werden, um die Anforderungen von MiCA zu umgehen. 
  • Finanzinstrumente sind ebenfalls vom Anwendungsbereich der MiCA ausgenommen. Dies ist dann relevant, wenn mit einem Token Rechte verbunden werden, die sonst bei Finanzinstrumenten anzutreffen sind, zB das Recht auf Zins- und Rückzahlung wie bei einer Anleihe. Der Token dient in einem solchen Fall lediglich als Trägermedium für das jeweilige Recht. Formell handelt es sich bei solchen Tokens zwar um Kryptowerte (nämlich eine digitale Darstellung eines Rechts); da jedoch bereits andere EU-Rechtsakte Finanzinstrumente regeln, sind solche Token von MiCA ausgenommen. Für den Vertrieb tokenisierter Finanzinstrumente gilt bspw MiFID II oder für das öffentliche Angebot tokenisierter übertragbarer Wertpapiere die Prospekt-VO. Neben Finanzinstrumenten sind noch eine Reihe anderer bereits EU-rechtlich geregelter Instrumente vom Anwendungsbereich der MiCA ausgenommen.
  • Reverse Solicitation, der aus MiFID II bekannte Grundsatz, wonach keine Lizenz im Wohnsitzstaat des Kunden nötig ist, wenn dieser auf eigene Initiative eine Leistung beansprucht, wird sich auch in MiCA wiederfinden. Für Krypto-Unternehmen aus Drittstaaten – also solche, die keine Niederlassung in der EU haben – besteht eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der MiCA. Werden Dienstleistungen ausschließlich auf eigenes Betreiben des Kunden erbracht, so besteht keine Pflicht zur Zulassung in der EU. Gegen einen möglichen Missbrauch enthält MiCA gleich mehrere Mittel: Einerseits gilt die Ausnahme nicht, wenn das Unternehmen in der Union Kunden akquiriert, auch wenn dies für ganz andere Produkte oder Dienstleistungen geschieht, und egal ob das Unternehmen dies selbst macht oder durch Partnerunternehmen. Außerdem dürfen dem Reverse-Solicitation-Kunden keine neuen Kryptowerte oder Dienstleistungen angeboten werden, um nicht den Genuss der Ausnahmebestimmung zu verlieren.
  • Konzernunternehmen werden nach MiCA vom Anwendungsbereich ausgenommen, wenn sie ihre Leistungen ausschließlich intern im Konzernverbund für andere Konzerngesellschaften erbringen. Solche Konzernunternehmen werden sich also ebenso nicht an MiCA halten müssen. Die Bestimmung ist für international agierende Dienstleister relevant, die Funktionen auf verschiedene Konzerngesellschaften aufteilen (wenn sie etwa die Infrastruktur für die Verwahrung und für den Betrieb einer Handelsplattform auf mehrere Konzerngunternehmen aufteilen). Gegen den Missbrauch dieser Bestimmung enthält MiCA einen Schutzmechanismus: Werden Tätigkeiten auf andere Konzerngesellschaften ausgelagert, so legt MiCA detailliert Anforderungen fest, die zu erfüllen sind. 

Neue Kategorien von Kryptowerten

Neben dem allgemeinen Begriff des Kryptowerts führt MiCA konzeptuell drei eigenständige Subkategorien von Kryptowerten ein, nämlich vermögenswertereferenzierte Token, E-Geld-Token und Utility-Token: 

  • Vermögenswertereferenzierter Token ist ein Kryptowert, dessen Wertstabilität durch Bezugnahme auf einen anderen Wert oder ein anderes Recht oder amtliche Währungen (oder Kombinationen davon), gewahrt werden soll. Dieser aus dem Englischen manchmal auch als Asset-Referenced Token oder ART bezeichnete Kryptowert soll somit einen stabilen Wert in Bezug auf andere Referenzwerte erhalten. Der Anwendungsbereich ist weit: Jeder andere Wert und jedes andere Recht kommen in Betracht, also etwa Gold, Immobilien, Fondsanteile, Aktien, Schuldverschreibungen oder auch andere Kryptowerte.
  • E-Geld-Token ist ein Kryptowert, dessen Wertstabilität unter Bezugnahme auf den Wert einer einzelnen amtlichen Währung gewahrt werden soll. Dieser aus dem Englischen manchmal als E-Money Token oder EMT bezeichnete Kryptowert ist vergleichbar mit dem Asset Referenced Token. Der wesentliche Unterschied liegt daran, dass sich die Wertstabilität nur auf eine einzige Währung bezieht, also etwa Euro oder US-Dollar.
  • Utility-Token ist ein Kryptowert, der ausschließlich dazu bestimmt ist Zugang zu einer Ware oder Dienstleistung zu verschaffen, die vom Emittenten des Kryptowerts bereitgestellt wird. MiCA unterscheidet in weiterer Folge zwischen Utility-Token, bei denen die Ware oder Dienstleistung bereits besteht oder bereits erbracht wird, und solchen, bei denen die Ausgabe des Tokens wie ein Vorverkauf zur Projektfinanzierung dient. 

Für das öffentliche Angebot dieser Kryptowerte gelten besondere Bestimmungen, die wir an späterer Stelle beleuchten. Nicht jeder Kryptowert lässt sich in eine dieser Kategorien einordnen. Fällt ein Kryptowert nicht darunter, so gelten dennoch die nachfolgend dargestellten allgemeinen Anforderungen für das öffentliche Angebot von Kryptowerten.

Inkrafttreten der Bestimmungen

Wie eingangs erwähnt, gilt MiCA uneingeschränkt ab dem 30. Dezember 2024. Die Regelungen über vermögenswertreferenzierte Tokens und E-Geld-Tokens gelten abweichend davon bereits ab dem 30. Juni 2024. Wer solche Tokens auflegen möchte, der kann dies also bereits früher machen.

Daneben bestehen noch eine Reihe weiterer Sonderregeln zur Anwendbarkeit der Vorschriften. So gilt etwa der gesamte Abschnitt über das öffentliche Angebot von Kryptowerten grundsätzlich nicht, wenn das Angebot abgelaufen ist, bevor MiCA in Geltung getreten ist – wenn das Angebot also vor dem 30. Dezember 2024 endet. Für diese Kryptowerte muss dann zB kein Whitepaper erstellt werden. 

Etwas anderes gilt aber dann, wenn solche Kryptowerte später auch zum Handel zugelassen werden. Ab dem Geltungsbeginn von MiCA müssen in diesem Fall die Marketingmitteilungen den Anforderungen der Verordnung entsprechen. Handelsplattformen müssen diesfalls außerdem sicherstellen, dass bis 31. Dezember 2027 ein Whitepaper erstellt, der Aufsichtsbehörde übermittelt und veröffentlicht wird, und auch das Whitepaper aktuell gehalten wird. 

Wer jetzt bereits vermögenswertereferenzierte Token emittiert, der darf damit fortfahren, bis unter MiCA eine Zulassung erteilt oder verweigert wurde (bzw bei Kreditinstituten bis das Kryptowerte-Whitepaper genehmigt oder die Genehmigung verweigert wurde). Voraussetzung ist lediglich, dass das Unternehmen innerhalb von 13 Monaten nach Inkrafttreten von MiCA, also spätestens bis 30. Juli 2024 eine Zulassung beantragt (bzw bei Kreditinstituten die FMA informiert). Diese Übergangsregel gilt sogar dann, wenn mit der Ausgabe der Token erst in der Zukunft begonnen wird, spätestens aber bis zum 30. Juni 2024. 

Besondere Übergangsregeln gelten auch für Dienstleister, die bereits am Markt aktiv sind. Sie dürfen grundsätzlich noch bis 1. Juli 2026 auf Basis ihrer bisherigen Zulassung ihre Tätigkeit ausüben. Außerdem darf auf diese Dienstleister ein vereinfachtes Zulassungsverfahren angewendet werden. Die einzelnen Mitgliedstaaten können aber einerseits kürzere Fristen vorsehen und müssen von den vereinfachten Zulassungsverfahren keinen Gebrauch machen. Wie dies in Österreich umgesetzt wird, ist derzeit noch nicht bekannt.


Teil 2 der Serie erscheint am kommenden Montag und widmet sich dem öffentlichen Angebot von Kryptowerten. Weitere Teile behandeln Kryptowerte-Dienstleistungen, Marktmissbrauch und Insiderhandel sowie nicht erfasste Geschäftsmodelle.

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Rituale, Rituale der Startup-Welt, Ritual, Howard, Factinsect, Hadia, Storebox, Instahelp, monkee, Dental Armor, Coinpanion
(c) Hello Again/zVg/Hadia/Die Abbilderei/Storebox/schon nice gmbh/Victor Malyshev - (o.v.l.) Franz Tretter von Hello Again, Romana Dorfer von Factinsect, Anna Lauda von Hadia, Bernadette Frech von Instahelp/ Johannes Braith von Storebox, Saad Wohlgennannt von Dental Armor und Martin Granig von monkee.

Dieser Artikel ist im brutkasten-Printmagazin von Dezember 2024 erschienen. Eine Download-Möglichkeit des gesamten Magazins findet sich am Ende dieses Artikels.


Ein Pythonkopf aus Stein ragt aus der Dunkelheit hervor. In Kreisen angeordnete, farbenfrohe Speerspitzen verzieren den kalten Höhlenboden; manche davon stammen aus Hunderte Kilometer entfernten Gegenden. Am Ende der Höhle erstreckt sich ein kleiner, versteckter Raum, der Platz für eine Person bietet; üblicherweise versteckt sich ein Schamane darin und spricht zu seinem Stamm, sodass es scheint, die steinerne Schlange selbst lasse donnernde Worte erklingen.

Diese Verehrung des majestätischen Reptils fand vor rund 70.000 Jahren in der Kalahari-Wüste am Fuße der Tsodilo Hills im heutigen Botswana statt. Dies hat im Jahr 2012 die Archäologin Sheila Coulson herausgearbeitet und, so heißt es, damit das älteste wissenschaftlich belegte Ritual der Welt entdeckt.

Seitdem haben sich Rituale in Gesellschaften im Großen und Kleinen gehalten und weiterentwickelt – von religiösen Gepflogenheiten über politisches Zeremoniell bis hin zu privaten, sich wiederholenden Gewohnheiten sind sie in tausendfacher Weise etabliert. Das Küssen des Balls im Sport, das Aufstehen mit dem „richtigen Fuß“, Salz über die Schulter werfen, auf Holz klopfen, Dinge nicht verschreien, Braut und Bräutigam nicht vor der Hochzeit sehen, zu bestimmten Jahreszeiten fasten, den Jahreswechsel laut feiern oder die zum Ritual gewordene Morgen-Rou­tine wiederholen.

Spiritualität und Ordnung

All dies lässt sich komprimiert und per Definition in zwei Bedeutungen unterteilen: in eine spirituelle Handlung und in ein „wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung“. Exakt diese Ordnung (also die zweite Definition) ist es, die auch manchen Startup-Gründer:innen dabei hilft, den stressigen Joballtag zu bewältigen, Klarheit zu schaffen und Erfolge zu erreichen.

Sohlen und Poster

So zeigt sich etwa Johannes Braith vom österreichischen Scaleup Storebox als großer Anhänger davon, sich klare Ziele zu setzen und diese zu visualisieren.

„Dabei halte ich es für wichtig, einerseits eine große Vision zu definieren und diese in kleinere Meilensteine herunterzubrechen“, sagt er. „Diese verhältnismäßig kleinen Meilensteine sind leichter zu erreichen, greifbarer und man kann entsprechend auch früher Erfolge verbuchen. Das Wichtigste ist, konstant dranzubleiben. Erfolg ist kein Sprint, sondern ein Marathon.“

Das Visualisieren definierter Ziele wurde bereits früh als Ritual bei Storebox eingeführt: Im Office des Logistikunternehmens prangen Vision und Werte als Poster an der Wand und OKRs (Objectives and Key Results) werden in Echtzeit mittels Soll/Ist-Vergleich auf Bildschirmen angezeigt.

Zudem gibt Braith noch eine weitere Besonderheit aus seiner Ritualwelt preis: „Habe ich ein Etappenziel für mich definiert, schreibe ich es mir auf die Sohlen meiner Schuhe“, sagt er. „Das hilft mir, mich daran zu erinnern, dass jeder kleine Schritt zählt.“

Der Knopf des Erfolgs

Franz Tretter, Gründer des Kundenbindungs-Startups Hello Again, nutzt Rituale dazu, um Ziele und Kultur in seinem Team zu verankern. Dazu gehört ein „Global Success Button“, der bei jedem neuen Kunden gedrückt wird, mit anschließender Feier im Büro. Mitarbeiter:innen, die remote arbeiten oder unterwegs sind, werden per Mail oder Smartphone ebenso informiert; „einfach, damit man Bescheid weiß“, sagt Tretter.

Auch etwas namens „Howard 1000“ gehört zum regelmäßigen Ritual des Linzer Teams dazu. Dabei handelt es sich um eine Wand bestehend aus 1.000 Kästchen mit einer besonderen Bedeutung. „Wir haben diese aufgebaut, als wir 120 Kunden hatten. Mit jedem Kunden, den wir gewonnen haben, haben wir ein Logo hinzugefügt und haben nun knapp 900 Kästchen voll“, erklärt Tretter.

Und zu guter Letzt sind bei Hello Again die „Compliment Cards“ ein weiteres internes Ritual: „Wertschätzung ist total wichtig bei uns“, erklärt Tretter. „Wir haben eigene Kärtchen beim Eingang, da schreibt man gelegentlich etwas Nettes drauf und legt es am Abend Kollegen auf den Tisch. Die freuen sich am nächsten Morgen.“

An diesen beiden Beispielen bemerkt man bereits eine kleine Gemeinsamkeit, die zwischen den Zeilen mitschwingt: Wiederkehrendes, etwas Konstantes ist nicht bloß eine Orientierungshilfe für Startup-Gründer:innen, sondern kann als einer von mehreren Bausteinen eines spezifischen Mindsets gesehen werden; eines Mindsets, das von einem ruhigen Leadership-Skill zeugt und deutlich zeigt, dass manchmal das wilde Gefüge in einem selbst sowie auch das Äußere, das sich unter Mitarbeitenden am Arbeitsplatz entwickelt, gepflegt werden muss.

Gemeinschaft fördern

Das weiß auch Anna Maria Lauda von Hadia, einem Wiener Verein, der weibliches Unternehmertum in Afghanistan fördert. Ihr hilft eine tägliche zehnminütige Meditation, den Tag entschleunigt, entspannt und fokussiert zu beginnen.

„Dadurch kann ich klarere Prioritäten setzen und produktiver arbeiten“, sagt sie. „Früher lag mein Schwerpunkt vor allem auf individuellen Praktiken wie dem Selbstmanagement und der strikten Zeitplanung durch To- do-Listen. Doch im Laufe meiner Reise als Gründerin habe ich erkannt, dass Flexibilität und der wertvolle Austausch mit dem Team genauso entscheidend sind. Heute schätze ich Rituale, die nicht nur den persönlichen Fokus stärken, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl fördern.“

Daher veranstaltet Lauda wiederkehrende Onlinemeetings mit ihren Weberinnen in Afghanistan. „Regelmäßige Check-ins mit den Frauen sind inspirierend und motivierend. Allzu leicht verliert man in der Hektik des Alltags den Bezug zu den Menschen, für die man arbeitet. Und diese Gespräche erinnern mich daran, was unser gemeinsames Ziel ist und wie viel wir schon erreicht haben“, sagt sie.

Saad Wohlgenannt, Gründer und CEO des Zahn-Startups Dental Armor und der Kryptobörse Coinpanion, hatte im Lauf der Zeit verschiedene Rituale, die er jedoch mittlerweile fast alle ab- gelegt hat; darunter eine wöchentliche „Rückschau“, um zu überlegen, was er besser machen könnte, oder Journaling (Anm.: Blick nach innen mit schriftlicher Aufzeichnung, was in einem vorgeht).

Heute plant er an jedem Geburtstag, was er im kommenden Jahr erreichen möchte. Meistens setzt sich der Founder dabei ein monetäres Ziel für sein Business sowie ein paar persönliche Ziele, wie etwa einen neuen Sport zu erlernen, ein Land zu bereisen oder ein bestimmtes Problem zu lösen.

„Die wichtigsten Rituale, die mir langfristig helfen, meine Ziele zu erreichen, haben meistens den Effekt, mich kurzfristig vom Arbeiten abzuhalten“, sagt er. „Zum Beispiel beginne ich meinen Tag mit ein paar Mobility-Übungen, Liegestützen, Klimmzügen und einer kalten Dusche – erst danach schaue ich in meine E-Mails und starte richtig durch. Ab 20.30 Uhr ist mein Handy auf ‚Nicht stören‘, und dann bin ich nur noch schwer erreichbar.“

Drei und nicht mehr

Romana Dorfer beschäftigt sich mit ihrem Startup Factinsect damit, die Fülle an Fake News im Netz aufzulösen und User:innen gesicherte Informationen zur Verfügung zu stellen. Sie selbst hat sich früher oft viele, unspezifische und große Ziele vorgenommen, die jedoch innerhalb eines Tages kaum zu erreichen waren. Dabei waren Fortschritte nur schwer messbar und am Ende des Tages wurde kein Ziel erledigt, wie sie gesteht. Dadurch ist oft das Gefühl entstanden, wenig erreicht zu haben.

Heute greift sie maximal auf drei Vorhaben pro Tag zurück. „Der Vorteil ist, dass ich fast immer alle Ziele für den Tag erreiche und dadurch meine Motivation steigt. Meistens arbeite ich dann noch an weiteren Themen“, sagt Dorfer.

Bei Martin Granig, Gründer der Spar-App monkee und Vater einer siebenjährigen Tochter, sehen die Morgen oftmals chaotisch aus. Um dem entgegenzuwirken, hat er eine Morgenroutine entwickelt: „Ich stehe meist 30 Minuten früher auf. Das gibt mir die Gelegenheit, mich in Ruhe im Bad fertig zu machen“, sagt er. „Während des Zähneputzens mache ich ein paar Übungen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen, bevor ich Frühstück für meine Tochter und Kaffee für meine Frau und mich zubereite. So habe ich noch ein paar ruhige Momente für mich, bevor der Trubel beginnt.“

Am Ende seines Arbeitstags führt der Gründer einen kurzen Check-in durch und klärt für sich, was er heute schaffen möchte, was er tatsächlich geschafft hat und was er noch anpassen muss.

„Das hilft mir, mein Time-Boxing im Kalender zu optimieren, gerade für die Aufgaben, die zwar wichtig sind, aber erst in der Zukunft anstehen“, erklärt er. „Ich habe gelernt, dass es notwendig ist, solche Dinge bewusst zu planen, bevor sie von den dringenden, aber weniger wichtigen Aufgaben verdrängt werden.“

Raus aus der Bubble

Für Granig gibt es zudem noch ein persönliches Highlight der Woche: Freitagabend-Basketball. „Das mag zwar kein typisches Gründer-Ritual sein, aber für mich ist es essenziell. Es hilft mir, Stress abzubauen, den Kopf frei zu bekommen und in einer entspannten Atmosphäre mit Freunden zu lachen. Danach starte ich erfrischt ins Wochenende – und am Montag wieder voller Energie in die neue Woche“, so der Tiroler, der früher oft von „dringenden Dingen“ stark getrieben war, die dazu führten, dass wichtige strategische Aufgaben oftmals zu kurz kamen.

„Man arbeitet in so einem Fall zu viel ‚in the business‘ statt ‚on the business‘“, sagt er. „Heute habe ich meine Timeboxing-Routine deutlich verbessert, damit genau diese wichtigen Dinge nicht untergehen. Früher musste ich auch keine Rücksicht auf Familie und Kind nehmen. Das hat sich natürlich geändert, und ich musste Wege finden, trotz all der Verantwortung auch noch Zeit für mich zu schaffen. Daher meine Morgenroutine und mein Freitagabend-Basketball. Dort geht es einfach nur ums Spielen und um entspannte Gespräche über deutlich unkompliziertere Dinge als Startups, Karriere oder Business. Das tut gut und gibt mir Energie.“

Ankerpunkte fürs Wesentliche

Ähnlich ergeht es Instahelp-Founderin Bernadette Frech. Für die Gründerin des Grazer Health-Startups sind Rituale bewusste Ankerpunkte, um den Fokus auf dem Wesentlichen zu halten – im Beruf wie im Privatleben.

„Eines der wichtigsten Rituale habe ich mit meinen Kindern: Jeden Morgen beginnen wir den Tag mit einer vollen Minute Umarmung, ohne Worte, nur Nähe. Das stärkt unsere Bindung und gibt uns einen liebevollen Start in den Tag“, sagt Frech. „Abends reflektieren wir gemeinsam: Beim Rückenkraulen sprechen wir über Belastendes, bei der kitzligen Fußmassage teilen wir schöne oder lustige Momente und bei der Kopfmassage besprechen wir, wofür wir dankbar sind und was uns gut gelungen ist.“

Ambition vs. Balance

Auch bei ihr haben sich Rituale über die Jahre verändert und sich immer wieder ihren Lebensumständen angepasst. Früher, als berufliche Ambitionen im Vordergrund standen, hatten Frechs Rituale viel mit persönlicher Effizienz und beruflicher Zielerreichung zu tun. Heute, als dreifache Mama und Unternehmerin, haben sich die Prioritäten verschoben.

„Es geht mir jetzt viel stärker darum, eine Balance zwischen Karriere und Familie zu finden, ohne den Fokus auf meine eigene mentale Gesundheit zu verlieren“, erklärt sie. Das Ritual mit ihren Kindern sei ein Beispiel dafür, wie sich Rituale an neue Lebensphasen anpassen.

„Früher hätte ich vielleicht nicht gedacht, dass eine Umarmung am Morgen oder ein Ritual vor dem Schlafengehen so kraftvoll sein könnten. Heute sind es genau diese Momente, die mich erden und mir und meinen Kindern Energie geben“, erzählt sie. „Was sich jedoch nie geändert hat, ist meine wöchentliche psychologische Beratung. Sie ist seit Jahren eine Konstante, die mich sowohl beruflich als auch persönlich auf Kurs hält, auch wenn sich die Themen im Laufe der Zeit wandeln.“

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