04.06.2015

“Mein Herz sagt nein, mein Kopf ja”: Wieso verkauften die 6Wunderkinder an Microsoft?

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© Facebook - Frank42: Frank Thelen war 6Wunderkinder-Investor der ersten Stunde.

“Was ist besser noch, als den letzten Punkt auf der To-Do-Liste ‘abzuhackerln’? Dies mit einer wunderschönen und nützlichen Produktivitäts-App zu tun! Ich bin überglücklich, heute verkünden zu dürfen, dass Microsoft 6Wunderkinder gekauft hat – den Entwickler der allseits begehrten To-Do-Listen App: Wunderlist“, meint Erna Megiddo, Manager bei Microsoft.

Die Gerüchteküche hat in den letzten Wochen gebrodelt: Haben sie es tatsächlich getan? Haben die “Wunderkinder” an Microsoft verkauft? In Berlin kam man um dieses Thema nicht herum. Jeder wusste etwas: “Ein Bekannter von einem Freund, der bei Wunderlist arbeitet…” oder “Meine Schwester, deren Freundin…”- jeder war Insider und kannte sogar genaue Beträge. “Zwischen 40 und 50 Millionen” hörte man, und “Ne, unter ein paar 100 verkaufen die nie”. Dann wurde von Wunderlist heftig dementiert, um nun doch offiziell zu bestätigen: “Heute ist ein geschichtsträchtiger Tag für mich und die gesamte Wunderlist Familie. Ich bin unglaublich begeistert davon, euch mitteilen zu können, dass wir Teil von Microsoft werden”, schreibt Christian Reber, seines Zeichen Gründer und CEO von Wunderlist, sehr emotional in einem Blogbeitrag. Aber noch jemand meldet sich an dieser Stelle zu Wort: Frank Thelen, Investor der ersten Stunde, der wohl die Hintergründe und Geschichte der “Wunderkids” wie kein anderer kennt.

“Ich hoffe, dass mein Beitrag andere Gründer und Investoren dazu inspiriert, Risiken einzugehen und Teams in herausfordernden Zeiten zu unterstützen. Startups sind ein unglaublich schwieriges Business, darum ist die Geschichte so inspirierend, wie es Reber schaffte, eine einfache Idee in eine phänomenal-erfolgreiche, globale Firma zu wandeln”, schreibt Thelen.

Der Investor traf Reber bei einem Meetup Treffen in Berlin – zur Erklärung, von diesen Startup-Get2gethers gibt es unzählige, die manchmal mehr, aber viel öfter weniger interessant sind. Jedenfalls tauschten die beiden ihre Kontaktdaten über Xing aus, weshalb Thelen auch ein paar Wochen später Rebers Aufruf auf der Plattform sah: “Wer mag mit mir zusammen die Projekt Management Software der nächsten Generation entwickeln?” Thelen wurde neugierig und rief an, um näheres zu erfahren. Der Rest ist Geschichte: Thelen und sein damaliger Geschäftspartner investierten die ersten 100.000 und schafften es etwas später weitere 500.000 zu vermitteln – Doch die 6Wunderkinder wuchsen so schnell, dass sie bloß 300.000 brauchten. Die Erfolgsstory ging weiter, schnell erkannte Reber, dass sie internationale Investoren brauchten und nicht länger das “lokale” Netzwerk von Thelen nutzen sollten. Denn die zwei Produkte – unter dem Deckmantel von 6Wunderkinder – benötigten Geld, um weiter zu wachen: ‘Wunderlist’ zeigte starken Antrieb und Wunderkit wurde aus Vision ein tatsächlicher Prototyp.

Und tatsächlich hatten bereits Top Investoren angeklopft, unter ihnen Sequoia und Atomico. Reber entschied sich für zweiteren, den Europäer und stellte 4,2 Millionen Dollar auf. “Ein beeindruckender Erfolg, wenn man bedenkt, dass wir mit der Idee, eine Projekt Management Software zu entwickeln, gestartet haben” Aber dann der tiefe Fall: “Im Rückblick hätte ich bei unseren Seed-Runden besser sein müssen: Größer denken, mehr Zeit investieren und versuchen müssen, Investoren zu bekommen, die bereits führende Player im Repertoire haben. Aber wir mussten zeitgleich auch das Produkt entwickeln, das Team aufbauen und wir brauchten schnelles Geld…”, räumt Thelen ein. “Ich hatte damals auch nicht das richtige Netzwerk oder die Erfahrung”.

Schließlich launchte man Monate später, im Februar 2012 Wunderkit. Eine überladene Projekt Management Plattform, die nicht funktionierte: Sie war zu komplex mit zu vielen Features und einem unklaren Fokus. Und auch wenn man versuchte, das Ruder rumzureißen – es funktionierte nicht. Schließlich entschied man, sich alleine auf Wunderlist zu konzentrieren. Aber um das Unternehmen weg von der schiefen Bahn zu bringen, brauchte es eine Wunderwaffe, die man in Chad Fowler fand, einem Techniker aus den USA. Thelen: “Ich weiß nicht, wie er es schaffte, einen high-profile US-CTO für ein kleines Startup in Berlin mit großen Backend Herausforderungen zu bekommen, aber sein Pitch muss sehr überzeugend gewesen sein”. Die wohl absolut richtige Entscheidung. Weiterer Schachzug: Sequoia Capital! Außerdem holte er noch Benedikt Lehnert als Chief Design Officer ins Team. Und ab dann war Wunderlist nicht mehr zu stoppen…

Die Frage aller Fragen: In vielen Interviews, über die man von Reber stolpert, liest man heraus, dass er nicht am schnellen Exit interessiert war. Wieso nur, wieso hat er dann verkauft?

Thelen: “Weil es eine überwältigende Möglichkeit ist. Wunderlist wird Teil von Microsoft sein (…) Wunderlist wird bestehen bleiben und stärker werden (und zwar viel schneller, als es ohne diesem Deal sein würde) Ich erinnere mich, als er zu mir sagte ‘Frank, mein Herz sagt nein, mein Kopf ja’ Geht es nach mir, dann ist das weit entfernt von unglaublich. Ein deutsches Startup mit wenig entrepreneurischer Erfahrung am Anfang, das startete, um sein Bestehen kämpfte, überlebte und siegte.”

Quellen: Frank Thelen, Microsoft, Wunderlist

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Nachlese. Wo steht die österreichische Wirtschaft bei künstlicher Intelligenz zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT? Dies diskutieren Doris Lippert von Microsoft und Thomas Steirer von Nagarro in der ersten Folge der neuen brutkasten-Serie "No Hype KI".
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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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