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Auch Leibetseder weist darauf hin, dass die Risikofinanzierung aus diesem Diskurs nicht herausgenommen werden kann: „Man spricht bei der Finanzierung von Startups auch oft von Risikokapital. Viele Kapitalrunden werden zum Teil medienwirksam inszeniert. Dass die langfristige Zukunft dieser Unternehmen aber noch nicht gesichert ist, sollte Bewerberinnen klar sein. Mir persönlich tut jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter leid, der oder die von so einer Situation betroffen ist. Gerade, wenn so viel Vertrauen in ein Unternehmen investiert wurde, dass man für den Job sogar den Wohnort wechselt. Wer allerdings mit diesem Mut und dieser Entschlossenheit ausgestattet ist, findet meiner Erfahrung nach rasch einen anderen Job.“

Risikofinanzierung und die Meta-Ebene

Rappold betont darüber hinaus, dass man ja aus einer langen Friedensperiode seit Ende des Zweiten Weltkriegs komme. Zuerst durch die Pandemie und dann durch den Ukraine-Krieg habe man jedoch plötzlich gemerkt, wie eng u.a. Logistikketten verwoben, dabei aber auch fragil sind. „Wir spüren es besonders in der Medikamentenproduktion, die aus Indien und China kommt“, sagt er. „Und stellen uns die Frage, wie die Zukunft aussehen wird zwischen Europa und Russland, mit der Ukraine als Puffer dazwischen. Auf einer globalen Ebene dominieren plötzlich andere Themen – es ist sehr viel Angst aufgekommen.“

Die Folge war, dass Zinsen angehoben wurden, die Zentralbankpolitik restriktiver wurde, Zögern und Zaudern zum Usus. „Es kam der ,Kryptowinter‘; nach zwei Jahren Pandemie endete das Homeschooling. Globale und makroökonomische Rahmenbedingungen änderten sich. Dem kann man sich schwerlich entziehen und muss auf diese Veränderung der Meta-Ebene reagieren. Alles andere wäre tatsächlich ,selbstmörderisch‘ und unklug“, so Rappold weiter.

“Hypergrowth-Startups wie Rennfahrer”

An dieser Stelle möchte Daniel Cronin einen Perspektivenwechsel einbringen und betont, dass solche radikalen Entscheidungen auch für Gründerinnen eine „grausame Geschichte“ sind. Sie alle würden fundamental an ihr Unternehmen glauben und müssten nach außen stets eine optimistische Sichtweise vertreten, auch wenn „Downsizing“ droht und das Startup strauchelt.

Für ihn sind Hypergrowth-Unternehmer:innen, die auf Mega-Wachstum setzen und scheitern, wie ein Rennfahrer, der „abgeflogen“ ist. Er nimmt Runde für Runde ein großes Risiko, hätte vielleicht in der Kurve ruhig etwas langsamer fahren können, dann aber auch die Chance auf den Sieg vertan, so seine Metapher. „Wachstum bedeutet ,volle Attacke‘, sonst hätte man nicht das Ziel, Weltmarktführer oder ,Regional Champion‘ zu werden. Anders gesagt: Ich gehe los und kaufe jeden am Markt auf, ,hire‘ die besten Leute und treffe Entscheidungen. Es fängt dann an zu funktionieren, bis man irgendwann die Notbremse ziehen muss und gesundes Wachstum plötzlich zum Ziel wird“, weiß er.

Dynatrace als Vorbild

In diesem Sinne wird das Technologieunternehmen Dynatrace oft als Vorzeigebeispiel genannt, wenn es um Firmenkultur geht, die besonderen Fokus auf Mitarbeiterinnen legt. Während die Mottos „People First“ und „Autonomy Principles“ eher den Anstrich einer New-Work-Systematik tragen, ging man in der Vergangenheit, besonders was das Wachstum betraf, sehr sorgsam mit Entscheidungen um.

„Downsizing war in der Geschichte von Dynatrace tatsächlich noch kein Thema“, erklärt Leibetseder. „Wir haben die Entwicklungen auf unseren Märkten immer sehr genau beobachtet und unser Recruiting daran orientiert. Gab es Wachstumsperspektiven, haben wir uns gezielt verstärkt, gab es eine Abschwächung der Dynamik, haben wir das Recruiting gebremst.“

Was hier so einfach klingt, ist ein komplexer Prozess, der über Jahre gewachsen ist und nicht bloß die berühmte Vertrauensbasis gegenüber Angestellten meint, sondern als ein ganzheitlicher und feinfühliger Umgang mit Mitarbeiterinnen verstanden werden kann.

„Wer Dynatrace kennt, weiß, dass wir hier eine sehr ausgeprägte Unternehmenskultur haben. Wer bei uns arbeitet, muss sich bei uns wohlfühlen. Nur wenn die individuelle Lebenssituation ganzheitlich, stabil abgesichert ist – Stichwort Work-Life-Balance oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf –, wird man auch die volle individuelle Stärke im Job entfalten können. Davon profitiert die Innovationskraft. Und das ist mit ein Grund für die langfristige Unternehmenszugehörigkeit vieler unserer Kolleginnen und Kollegen.“

Ein Idealzustand, der im Vorjahr bei prominenten Vertreterinnen der heimischen Startup-Szene nicht nur nicht zur Geltung kam, sondern durch die Massenkündigungen gar nicht erst Fahrt aufnehmen konnte. Während die Gründe dafür vielfältig sind und für das Verstehen verschiedene Perspektiven benötigt werden, ging als Folge dieser Entwicklungen auch etwas anderes hervor. Etwas, das eine Art Umdenken symbolisiert und nun beinahe wie ein Dogma von verschiedenen Vertreterinnen der Szene vorangetragen wird. Eine Sache, der aber ebenso die Gefahr droht, künftig als eine Art „Health Washing“ zu verkommen, falls falsch oder nur zu PR-Zwecken eingesetzt, schlussendlich doch aber Potenzial hat, Arbeitskulturen zu ändern. Der Begriff lautet „Healthy Growth“

Healthy Growth-Strategien

Jule Wilhelm von Speedinvest Pirates hat die letzten Monate damit verbracht, konkrete Taktiken zu entwickeln, wie gesundes Wachstum zu bewerkstelligen sei. „Das Problem war, dass in der Startup-Welt durch aufgeblasene ,Funding Rounds‘ auch viel Geld für ,Paid Marketing‘ ausgegeben wurde. Man hat mit großen Teilen des Budgets Werbung geschaltet, auf Facebook oder Google, und dadurch gehofft, neue Kundinnen zu generieren“, sagt sie.

Für die Senior Analystin Growth Marketing stellt dies das Gegenteil von Healthy Growth dar; Geld „hineinzuschütten“, sei vielleicht kurzfristig attraktiv, jedoch würde dadurch auch viel Kapital verloren gehen.

„Wir definieren andere Wachstumsideen. Es dreht sich bei nachhaltigem Wachstum alles rund um SEO und eine langfristige Strategie mit bestimmten Keywords. Es geht darum, jene Leute zu gewinnen, die konkret nach meinem Produkt suchen“, sagt Wilhelm. „Diese gezielte Schärfung der Zielgruppe soll das bloß blinde Schalten von Werbung ablösen (auch Kosten einsparen) und gezielt Leute adressieren, die schon ein hohes Interesse an meinen Erzeugnissen aufweisen.“

Ein weiterer Punkt für Healthy Growth fokussiert auf Datenanalyse und -generierung. Anfangs noch auf „Assumptions“ aufbauend, sollen hierbei über einen längeren Zeitraum Daten gesammelt werden und ein Datenpool entstehen, um bessere Entscheidungen zu treffen.

„Das Zauberwort ist ,Product Market Fit‘. Wann trifft mein Produkt den Markt, wann trifft es die Wünsche und ,Needs‘ meiner Kundinnen? Für die Beantwortung dieser Fragen braucht es Daten“, betont Wilhelm weiter.

Der dritte und letzte Faktor für eine Healthy-Growth-Strategie ist der Punkt „organisches Marketing“. Dies bedeutet, sich genau zu überlegen, was man den Kund:innen präsentieren und bereitstellen kann. „Hier ist es essenziell, bereits gewonnene Kund:innen zu halten und sie für die eigene Marke werben zu lassen, anstatt immer wieder zu versuchen, neue Leads zu generieren“, erklärt Wilhelm. „Es ist wichtiger, sie zu halten, als potenzielle neue zu akquirieren.“

Eine Lösung von Cronin bei Massenkündigungen

Für Daniel Cronin hingegen ist Healthy Growth mit einem Kletterer vergleichbar. Manche von ihnen würden mit einem Hubschrauber auf den Berg fliegen, andere ohne Seil eine Steilwand erklimmen. Andere wiederum verwenden Sicherungsseile.

„Letztere sind zwar nicht so schnell und haben nicht diesen Kick, gelangen aber auch ans Ziel. Etwas langsamer, als es Investorinnen vielleicht hören wollen. Schlussendlich wird das zur Frage, was man möchte. Holt man sich VC-Kapital ins Startup hinein, muss man bedenken, dass hier Leute am Werk sind, die bewusst ,High Performance‘ wählen. Sonst würden sie nicht investieren“, sagt er und bietet zugleich einen kleinen Lösungsansatz, um tragische Einzelschicksale etwas zu dämpfen, sollte ein Startup zu Massenkündigungen greifen müssen.

Er schlägt vor, in Absprache mit VCs, Investorinnen und Kapitalgeber:innen in einen Fonds einzuzahlen, der Mitarbeiterinnen – auch nach der Kündigung – eine gewisse „Zeit zum Atmen“ ermöglichen kann.

Erwartungen von außen

Dieter Rappold indes appelliert daran, dass sich jede(r) Founder:in überlegen muss, ob er bzw. sie ein Unternehmen oder ein Startup gründen möchte. Ein Startup beinhalte nun mal eine Risikofinanzierung von außen, die damit einhergehe, dass Erwartungen an „Exponential Growth“ existieren.

„Wenn ich das nicht will, dann ist VC-Kapital nicht meine Finanzierungsform. Es ist auch in Ordnung zu sagen, ich habe mich für einen Job entschieden und möchte 15 Jahre dort arbeiten. Aber möglicherweise ist so eine Einstellung in der Welt, in der wir leben, eine irrationale Erwartungshaltung. In einem Startup ist es definitiv nicht die Aufgabe eines Founders, solche Bedürfnisse zu befriedigen. Was ich allerdings bekomme, ist eine Chance auf eine exponentielle Learning-Kurve. Ich kann in einem Startup in zwei Jahren lernen, was ich in vielen Jahren in einem Corporate nicht schaffe“, sagt Rappold. Und bringt schlussendlich eine klare und unmissverständliche Perspektive bzw. deutlicher ausgedrückt, eine Wahrheit ein, die unwiderruflich Teil der Innovationsszene ist und wohl auch bleiben wird: „Ein Startup ist keine Jobgarantie.“


(Dieser Artikel ist im StartingUp-Magazin, Ausgabe 01/23, erschienen).