12.05.2023

Levy Health: Warum die USA für das FemTech der bessere Markt sind

Unfruchtbarkeit gilt als Tabuthema. Der Gang in die Kinderwunschklinik ebenso. Levy Health widmet sich beiden Themen und bietet eine Software, die endokrinologische Erkrankungen diagnostiziert. brutkasten hat mit der österreichischen Co-Founderin Caroline Mitterdorfer über ihre Gründung in Berlin und die Expansion in die USA gesprochen.
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Die Gründerinnen vom Berliner FemTech-Startup Levy Health (v.l.): Caroline Mitterdorfer, Silvia Hecher und Theresia Vilsmaier © Levy Health
Die Gründerinnen vom Berliner FemTech-Startup Levy Health (v.l.): Caroline Mitterdorfer, Silvia Hecher und Theresia Vilsmaier © Levy Health

Ein unerfüllter Kinderwunsch ist schmerzhaft und teuer. Neben dem gesellschaftlichen Stigma kann auch der Eingriff einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zur Belastungsprobe werden. Ein invasiver und kostspieliger Schritt wie die künstliche Befruchtung muss aber nicht für alle Frauen die Lösung sein, finden die drei Gründerinnen Caroline Mitterdorfer, Silvia Hecher und Theresa Vilsmaier.

Mit ihrem Tech-Startup Levy Health haben sie eine Software entwickelt, die bei der Diagnostik von Unfruchtbarkeit helfen soll. Das Ziel: Die Nummer Eins für diagnostische Support Systeme in der Frauengesundheit werden.

Die Wiener Co-Founderin Caroline Mitterdorfer sprach mit brutkasten über die Gründung in Deutschland, den Kampf mit den Krankenkassen und warum der Schritt in die USA für das FemTech so naheliegend war. 

Von der HBLA zur reproduktionsmedizinischen Karriere

Der Weg von der Kindheit in Wien bis zur Startup-Gründung in Berlin war für Mitterdorfer keine gerade Linie. Mit 18 Jahren und der Matura in der Tasche, verließ sie ihre Heimatstadt, studierte Finance in London und lebt seit mittlerweile acht Jahren in der deutschen Hauptstadt. Nachdem sie die Diagnose Gebärmutterhalskrebs erhielt, habe sie sich vermehrt mit den Themen Fruchtbarkeit und dem Einfrieren von Eizellen auseinandergesetzt. “Dann habe ich gemeinsam mit der BAWAG den ersten Kinderwunschkredit in Deutschland kreiert. Das war der Start meiner reproduktionsmedizinischen Karriere”, erklärt sie im brutkasten-Gespräch.

Als Gründerin über eigene Probleme sprechen

In ihrer Arbeit als Gründerin gehört es für sie auch dazu, über persönliche Aspekte, wie die eigene Diagnose, zu sprechen. “Jedes siebte Paar hat Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Doch kein Mensch spricht öffentlich darüber, weil man das Gefühl hat, dass man seine gesellschaftlichen Pflichten irgendwie verfehlt hat”, meint Mitterdorfer. Dieses Tabuthema möchte sie aufbrechen: “Wir sind ja auch Gründerinnen geworden, weil wir diesem Thema eine Bühne schenken wollen. Da liegt es nahe, auch als Vorbild aufzutreten und über die eigenen Probleme zu sprechen.”

Während der Zusammenarbeit mit diversen Kinderwunschkliniken lernt Mitterdorfer dann ihre beiden späteren Mitgründerinnen kennen. Hecher – ebenfalls aus Österreich – studierte unter anderem Public Health in den USA und die Münchner Reproduktionsmedizinerin Vilsmaier macht das Gründungsteam mit medizinischer Expertise komplett. Schnell erkennen sie eine Lücke im System: “Frauen werden nicht rechtzeitig diagnostiziert. Viele Frauen haben bereits einen jahrelangen Kinderwunsch und machen erst mit Ende dreißig ihre erste IVF. Das ist relativ spät”, meint Mitterdorfer. 

Außerdem sei die künstliche Befruchtung eigentlich der letzte Schritt. Es gebe noch viele andere Gründe, weshalb Frauen unfruchtbar sind, die leichter therapiert werden könnten, als in Form einer invasiven OP. Levy Health konzentriert sich dabei auf endokrinologische Diagnostik.

Levy Health: So funktioniert die Software

Die Endokrinologie beschreibt die Lehre von Hormonen. Mit der Levy Health Software sollen verschiedenste endokrinologische Krankheiten erkannt werden. Dazu gehören beispielsweise die hormonabhängige Unterleibserkrankung Endometriose oder die Hormonstörung Polycystisches Ovarialsyndrom (PCO-Syndrom). In Form eines reproduktionsmedizinischen Fragebogens simuliert die Software im ersten Schritt ein Erstgespräch zwischen Ärzt:in und Patientin. Darauf aufbauend empfiehlt Levy Health eine Blutdiagnostik: die Nutzerin erhält eine Laborüberweisung mit bestimmten Biomarkern, die getestet werden sollen. 

70 Prozent der empfohlenen Therapien nichtinvasiv

Die Laborergebnisse werden dann mit den Antworten des Fragebogens verglichen. “Das erlaubt uns eine Empfehlung für eine Diagnose. Diese Empfehlung wird unseren Partnerärzt:innen ausgespielt, mit dem oder der die Patientin dann ein Videogespräch hat. Dort erhält sie Zugang zu den Ergebnissen”, erklärt Mitterdorfer. Mit diesen Laborergebnissen könne die Patientin dann – je nach Diagnose – zu einer Kinderwunschklinik oder ihrer Hausärzt:in bzw. Gynäkolog:in gehen und ihre individuelle Therapie beginnen. “70 Prozent unserer empfohlenen Therapien sind nichtinvasiv”, meint die Co-Founderin hierzu.

Der naheliegende Schritt in die USA

Doch Deutschland ist für das Berliner FemTech nicht der einzige interessante Markt, betont Caroline Mitterdorfer. Das brutkasten-Gespräch findet kurz nach ihrem dreimonatigen Aufenthalt in den USA statt. “Wir werden das jetzt auf jeden Fall öfter machen”, erklärt sie mit Blick auf Funding, Hiring und Partnerschaften, die das Startup in den Vereinigten Staaten aktuell angeht. Der Schritt über den Atlantik kam nicht zuletzt als Reaktion auf die Limitierungen im europäischen Markt, erklärt die Gründerin. 

“Vor allem im Deutschland und Österreich sind wir es gewohnt, dass Laborkosten und andere medizinischen Leistungen von Krankenkassen übernommen werden. Das ist zum Markteinstieg allerdings erstmal schwierig. In den USA kann jeder Arzt bzw. Ärztin eine Laborüberweisung in Auftrag geben und die Laborkosten werden von den Krankenkassen übernommen. Währenddessen arbeiten wir in Deutschland mit Privatarzt:innen zusammen, was die Übernahme der Laborkosten von Krankenkassen erschwert. Seit Dezember 2022 sind wir in den USA verfügbar.”

“Wäre das ein Männerteam, hätten wir safe investiert”

Levy Health ist inzwischen zwei Jahre alt, der Marktstart erfolgte vor einem Jahr. Auch österreichische Player konnte das Gründerinnen-Trio bereits überzeugen: Hansi Hansmann und Calm/Storm Ventures sind unter anderem investiert. Ein Gründungsteam, das aus drei Frauen besteht, erscheint Mitterdorfer aber manchmal auch als Schwierigkeit. “Wäre das ein Männerteam, hätten wir safe investiert”, habe sie einmal von einem VC gehört. 

Dennoch sei ihre Beobachtung keine valide Begründung, weshalb es weniger Finanzierungen gibt. Vielmehr vertritt sie die These: Wenn es mehr Partnerinnen auf VC-Ebene geben würde, würden wir auch mehr Finanzierungsrunden im Bereich Frauengesundheit sehen. “Ich halte das für ein grundsätzliches Problem beim Thema Frauengesundheit. Viele Männer können sich immer noch nicht in das Thema Frauengesundheit hineinversetzen”, meint sie.

Deal mit Krankenkasse geplatzt

Ihre Vermutung habe sich erst vor einigen Wochen in der Zusammenarbeit mit einer großen deutschen Krankenkasse bestätigt. Für knapp sechs Monate habe Levy Health mit einer Krankenkasse und deren Innovationsteam zusammengearbeitet – mit dem Ziel einer Kooperation. Dafür sei ein Selektivvertrag unterschrieben und eine Marketinginitiative aufgebaut worden. Am 15. März 2023 hätten sie live gehen sollen, doch dann kam die Absage des CEOs.

Dessen Begründung sieht Mitterdorfer kritisch. Er habe die Zusammenarbeit beendet, mit dem Verweis, dass Frauen diese Leistung ausnutzen könnten und er keinen Sinn darin sehe, wieso Frauen die Diagnose von endokrinologischen Krankheiten gezahlt werden sollten. “Das ist nur ein Beispiel von vielen. Man bekommt sehr häufig Pushbacks von jemandem, der kein Gefühl dafür hat, was es bedeutet, an Endometriose oder PCO zu leiden”, erklärt Mitterdorfer hierzu.

Pushbacks gehören dazu. Genauso wie klare Unternehmensziele, die sich die Gründerinnen gesetzt haben. Caroline Mitterdorfer fasst ihr ganz persönliches Ziel im brutkasten-Gespräch zusammen: Sie möchte Levy Health Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung stellen, die ihre Lösung direkt an ihren Patientinnen anwenden. Damit würde das bisherige “Matching” zwischen Ärzt:in und Patientin wegfallen. “Das wird man nicht so schnell in Österreich oder Deutschland erreichen. Daher rührt auch unsere Entscheidung, in den US-Markt zu gehen. Dieser ist stark umsatzgetrieben und wenn ein Arzt eine Diagnose stellt, kann er direkt mit der Behandlung beginnen”.

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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