18.04.2023

Leiwand.ai: „Fairness in KI betrifft jeden, nicht nur Frauen und Minderheiten“

Rania Wazir und Gertraud Leimüller haben 2022 das Wiener Startup Leiwand.ai gegründet. Seither setzt sich das Duo für Fairness in künstlicher Intelligenz ein. Im brutkasten-Interview erklären die Gründerinnen, warum Fairness in KI für alle Menschen wichtig ist.
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Rania Wazir und Gertraud Leimüller möchten mit ihrem Startup Leiwand.ai künstliche Intelligenz fairer gestalten. (c) Leiwand.ai

Wir befinden uns in einer zunehmend digitalisierten Welt, in der künstliche Intelligenz (KI) immer mehr Aspekte unseres Alltags durchdringt. Mit den jüngsten technologischen Fortschritten dringen Fragen zur Fairness und Gerechtigkeit von KI-Systemen stärker in den Vordergrund. Von Personalbeschaffung über Kreditvergabe bis hin zu medizinischer Diagnostik, künstliche Intelligenz trifft bereits schwerwiegende Entscheidungen, die ethnische und gesellschaftliche Fragestellungen aufwerfen.

Das Wiener KI-Startup Leiwand.ai hat es sich zur Aufgabe gemacht, den “Fair by Design”-Ansatz in die Entwicklung von künstlicher Intelligenz von Anfang an zu implementieren. Damit möchten die Gründerinnen Gertraud Leimüller und Rania Wazir dazu beitragen, die revolutionäre Technologie zum Wohle der Menschen einzusetzen und Diskriminierung durch KI zu reduzieren. Das im Jahr 2022 gegründete Startup arbeitet aktuell an einem Bias-Detektor, der frühzeitig unbeabsichtigte Diskriminierung durch künstliche Intelligenz aufspüren soll.

Technische und soziale Fairness in KI

“Fairness in künstlicher Intelligenz betrifft jeden, nicht nur Frauen und Minderheiten”, sagt Gertraud Leimüller, Co-Founderin von Leiwand.ai. Anhand eines Beispiels erläutert sie, dass auch ein junger, weißer Mann von künstlicher Intelligenz diskriminiert werden kann, da er beispielsweise für seine medizinische Ausbildung länger braucht, weil die KI aufgrund verzerrter Kriterien Ausbildungsplätze nur mit großen Zeitabständen vergibt. Leimüller und Wazir unterscheiden daher zwischen technischer und sozialer Fairness. Technische Fairness wird durch die Implementierung von Fairness-Maßnahmen während der Entwicklung berücksichtigt, kann aber durch den Einsatz von verzerrten Daten gefährdet werden und unbeabsichtigte Diskrimminierung hervorrufen.

Wir können nicht erwarten, dass die Algorithmen, die wir entwickeln und mit historischen Daten und Biases trainieren, faire Entscheidungen treffen

Rania Wazir

“Wenn Daten, die für KI-Training verwendet werden, kaum Frauen oder ethnische Gruppen repräsentieren, wird die KI glauben, fair zu handeln. In der Praxis sieht das aber anders aus, da die Daten die gesellschaftliche Realität nicht korrekt wiedergeben“, erklärt Leimüller. Wazir fügt hinzu, dass wir Menschen nicht fair sind. “Das müssen wir uns eingestehen. Wir können nicht erwarten, dass die Algorithmen, die wir entwickeln und mit historischen Daten und Biases trainieren, faire Entscheidungen treffen.”

Auch soziale Fairness könne keine hundertprozentige Fairness garantieren, da diese auf Kompromisse und Trade-offs basiert. „Wenn ich die KI so programmiere, dass sie Frauen auf keinen Fall diskriminieren darf, kann ich die Diskriminierung anderer dadurch kaum verhindern. Ich kann nicht alle Gruppen fair behandeln“, sagt Leimüller. Dennoch sei es möglich, das Risiko für Diskriminierung zu minimieren.

Fairness in KI ist Perspektiven-abhängig

Ein wichtiger erster Schritt für die Auseinandersetzung mit Fairness ist, zu verstehen, dass Fairness für jede einzelne Person etwas anderes bedeuten kann, da sie Perspektiven-abhängig ist. „Zum Beispiel bedeutet Fairness für einen Richter als Entscheidungsträger etwas ganz anderes als Fairness für den Angeklagten als Betroffener“, erklärt Wazir und nennt 20 unterschiedliche Metriken, um Fairness zu messen.

„Diese 20 Formeln haben mittlerweile alle mathematisch bewiesen, dass nicht alle gleichzeitig erfüllt sein können“, erklärt die Gründerin weiter. Das bedeutet, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, welche Metriken berücksichtigt und welche Perspektiven dem KI-System vermittelt werden. Dadurch wird klar, dass Fairness in KI nicht einheitlich messbar ist und von verschiedenen Blickwinkeln und Kontexten abhängt.

KI-Landschaft als “Wilder Westen”

Während künstliche Intelligenz das Potenzial hat, unsere Lebensqualität zu verbessern, besteht auch die Gefahr, dass sie gesellschaftliche Ungleichheiten und Diskriminierungen verschärft. „Künstliche Intelligenz ist sehr mächtig. Mit dieser Macht kommt eine Verantwortung, welcher wir uns nicht entziehen sollten“, sagt Wazir. Die Gesellschaft habe die Verantwortung, dass durch den Einsatz von KI-Technologien weder Menschen noch der Umwelt ungewollten Schaden zugefügt wird. Aus diesem Grund wird dem Thema Regulierung in der KI-Branche eine umso größere Wichtigkeit zugeschrieben.

Die Gründerinnen beschreiben die KI-Landschaft als “Wilder Westen”, da aktuell Qualitätskriterien fehlen und dadurch der Auslöser für das wachsende Misstrauen und die Vorbehalte in der Gesellschaft rund um diese Technologien seien. “Wenn Fairness in KI nicht berücksichtigt wird, können Bedenken gegenüber diesen Technologien entstehen. Viele Menschen vertrauen der KI nicht. Wir sehen das teilweise jetzt schon, wenn diese Systeme am Arbeitsplatz eingesetzt werden”, sagt Leimüller.

Um zukünftige Akzeptanzprobleme aus dem Weg zu räumen und Fairness in KI-Systemen sicherzustellen, sei es daher notwendig, Mindestqualitätsstandards für künstliche Intelligenz aufzustellen. Das ist vor allem mit unterschiedlichen Soft-Laws und Zertifizierungen von KI-Unternehmen möglich. Zudem sind die KI-Expert:innen davon überzeugt, dass KI-Regulierungen und Standards das Potenzial mitbringen, Menschen Arbeit abzunehmen und die KI-Entwicklung künftig zu erleichtern. “Eine gute Qualitätsrichtlinie und Regulierung helfen uns in den Bereichen, wo es noch so viel zu entdecken gibt”, erklärt Wazir weiter.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit fundamental für KI

Bei der Entwicklung von KI-Technologien müsse man das Hauptaugenmerk darauf legen, zu verstehen, welche Personengruppen von der Entwicklung betroffen sind, wie sich diese auf die Menschen auswirken und welche Vorteile und Bedürfnisse sich daraus für die Nutzer:innen ergeben. Dieser Aspekt ist ein wesentlicher Bestandteil im Entwicklungsprozess, um Techniker:innen frühzeitig über diese Werte zu informieren.

“Developer:innen haben keine sozialwissenschaftliche Ausbildung. Wir können die Verantwortung über Gleichberechtigung in KI nicht allein Data Engineers und Entwickler:innen überlassen”, sagt Leimüller. Die gesamte Gesellschaft müsse sich an der Diskussion um Fairness in KI beteiligen. Genau hier müsse man ansetzen und mehrere Disziplinen vereinen, um ein umfassendes Verständnis von künstlicher Intelligenz zu gewährleisten.

Als ersten Ansatz hierfür nennt Leimüller die interdisziplinäre Ausrichtung in der Ausbildung. Zudem sei es wichtig, Techniker:innen komplementäre Ausbildungen anzubieten. “Was wir jetzt brauchen, sind interdisziplinäre Teams. Wir müssen verstehen, dass man keine gute KI entwickeln kann, wenn nicht mehrere Expert:innen aus unterschiedlichen Disziplinen an einem Tisch sitzen. Das ist eine sehr wichtige Herangehensweise”, erklärt Leimüller.

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Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala | Foto: brutkasten

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„Müssen positiv aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten“

Hermann Erlach von Microsoft bezeichnet den Ansatz des AI Act ebenfalls als „gut“, betont aber gleichzeitig, dass es jetzt auf die Umsetzung von KI-Projekten ankomme: „Wir haben eine Situation, in der jedes Land an einem neuen Startpunkt steht und wir positiv aggressiv reingehen müssen, um unseren Wohlstand zu halten.“

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Jeannette Gorzala sieht das ähnlich: „Bildung und Kompetenz ist das große Thema unserer Zeit und der zentrale Schlüssel.“ Verstehe man etwas nicht, verursache dies Ängste. Bezogen auf KI heißt das: Fehlt das Verständnis für das Thema, setzt man KI nicht ein. Die Opportunitätskosten, KI nicht zu nutzen, seien aber „viel größer“ als das Investment, das man in Bildung und Governance tätigen müssen. „Natürlich ist es ein Effort, aber es ist wie ein Raketenstart“, sagt Gorzala.

IBM-Programm: „Die Angst war weg“

Wie das in der Praxis funktionieren kann, schilderte IBM-Chef Porak mit einem Beispiel aus dem eigenen Unternehmen. IBM lud weltweit alle Mitarbeitenden zu einer KI-Challenge, bei der Mitarbeiter:innen eigene KI-Use-Cases entwickelten, ein – mit spürbaren Folgen: „Die Angst war weg.“ Seine Beobachtung: Auch in HR-Teams stieg die Zufriedenheit, wenn sie KI als Assistenz im Arbeitsablauf nutzen. „Sie können sich auf die komplexen Fälle konzentrieren. KI übernimmt die Routine.“

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Venture Capital: „Müssen in Europa ganz massiv was tun“

Soweit also die Unternehmensebene. Einen große Problemstelle gibt es aber noch auf einem anderen Level: Der Finanzierung von Innovationen mit Risikokapital. „An der Stelle müssen wir in Europa ganz massiv was tun“, merkte Ahnert an. Er verwies auf Beispiele wie DeepMind, Mistral oder Hugging Face, hinter denen jeweils europäische Gründer stehen, die aber in den USA gegründet, ihre Unternehmen in die USA verkauft oder zumindest vorwiegend aus den USA finanziert werden.

Der Nagarro-Experte verwies dazu auf eine Studie des Applied AI Institute, für die Startups aus dem Bereich generative KI zu den größten Hürden, mit denen sie es zu tun haben, befragt wurden. „51 Prozent haben Funding genannt. Weit abgeschlagen an zweiter Stelle mit 24 Prozent erst kam die Regulierung und unter 20 Prozent waren Themen wie Fachkräftemangel oder Zugang zu Compute Power.“ Ahnerts Appell: „Bei dem Thema Finanzierung müssen wir was tun, damit wir in der nächsten Welle an der Spitze sind.“

Erlach: Adaption entscheidend

Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: „Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.“ Die wichtigere Frage sei also: „Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?“

Marco Porak ergänzt: „Ganz, ganz wesentlich ist Mut. Ganz, ganz wesentlich ist unsere kulturelle Einstellung zu dem Thema.“ Man müsse die Chancen sehen und weniger das Risiko. In der Regulatorik könne man dies begleiten, indem man Anreize schafft. „Und ich glaube, wenn wir das als Österreich mit einem großen Selbstbewusstsein und auch als Europa mit einem großen Selbstbewusstsein machen, dann haben wir in fünf Jahren eine Diskussion, die uns durchaus stolz machen wird.“


Die gesamte Folge ansehen:


Die Nachlesen der bisherigen Folgen:

Folge 1: „No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?“

Folge 2: „Was kann KI in Gesundheit, Bildung und im öffentlichen Sektor leisten?“

Folge 3: “Der größte Feind ist Zettel und Bleistift”: Erfolgsfaktoren und Herausforderungen in der KI-Praxis”

Folge 4: KI-Geschäftsmodelle: “Wir nutzen nur einen Bruchteil dessen, was möglich ist”

Folge 5: Open Source und KI: “Es geht nicht darum, zu den Guten zu gehören”


Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.

No Hype KI

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Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: „Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.“ Die wichtigere Frage sei also: „Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?“

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