08.07.2024
FOODTECH

Käse ohne Milch: Wie Eva Sommer den Weltmarkt erobern will

Schulabbruch mit 15, Mutter mit 18, Millionen-Exit mit 31. Eva Sommers nächstes Ziel: die Welt mit veganem Käse erobern. Wir haben die Gründerin an ihrem Wiener Standort besucht und mit ihr über die Vision ihres Startups Fermify gesprochen.
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Eva Sommer im Labor | (c) brutkasten / Viktoria Waba

*Dieser Artikel erschien zuerst in der neuen Ausgabe unseres Printmagazins. Eine Downloadmöglichkeit findet sich am Ende des Artikels.

Wie schmeckt der perfekte Käse? Eva Sommer muss lachen. Die gebürtige Steirerin hat über 20 Jahre keinen Käse mehr gegessen. Sie lebt seit mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten vegan. “Mit 15 Jahren habe ich einfach aufgehört, Käse zu essen. Aber schon als Kind mochte ich keinen Käse“, sagt Sommer. Mittlerweile habe sich ihr Geschmack aber verändert, wie sie im Büro ihres Wiener Startups Fermify im Gespräch mit brutkasten erzählt.

Das Unternehmen ist am Wiener Stadtrand, im 21. Bezirk, in einem Industriegebäude angesiedelt. Von außen lässt sich nur sehr schwer erahnen, dass hier an der Disruption der weltweiten Milchwirtschaft gearbeitet wird. Lediglich ein kleines Schild mit Firmenlogo auf einem Maschendrahtzaun zeugt davon, dass in dem schmucklosen Gebäude eines der wichtigsten Food-Startups aus Österreich untergebracht ist.

Im Inneren beherbergt das Gebäude auf zwei Stockwerken zahlreiche Bioreaktoren, ein Forschungslabor und Büroräumlichkeiten. Als Besucher muss man eine Schutzbrille und einen weißen Labormantel tragen – Sicherheit geht vor. Durch das Gebäude verlaufen nämlich Leitungen mit heißem Dampf, wie ein Mitarbeiter vor dem Gespräch mit Eva Sommer anmerkt. Auch die Gründerin selbst trägt weißen Kittel und Schutzbrille. Stolz (und etwas aufgeregt) führt sie uns durch das Gebäude. Im unteren Stockwerk befinden sich die Bioreaktoren. Einer von ihnen wurde von einem Schweizer Anlagenbauer speziell für Fermify gefertigt. Erst am Vortag war er angeliefert worden. Ganz nach dem Motto „Work in Progress“ kommen jede Woche neue Maschinen und Apparaturen hinzu. Sie werden benötigt, um Sommers Vision Wirklichkeit werden zu lassen: Mit ihrem 30-köpfigen Team möchte sie den weltweiten Markt für veganen Käse revolutionieren.

Das Problem mit veganem Käse

Ihrer ambitionierten Vision liegt, wie bei Startups üblich, ein klar definiertes Problem zugrunde. Die Gründerin bringt es sehr nüchtern auf den Punkt: „Veganer Käse schmeckt einfach nicht gut.“ Sommer spricht den derzeit am Markt erhältlichen pflanzenbasierten Käse an – dieser erreicht nicht den Geschmack und die Textur von traditionellem Käse aus Kuh-, Ziegen- oder Schafsmilch.

Die Produkte schmecken häufig künstlich, oft haben sie eine gummiartige oder sandige Textur. Zudem schmelzen sie nicht so gut wie Milchkäse. Das ist ein Problem, insbesondere beim Überbacken von Speisen wie Pizza oder Toasts. “Die Consumer Acceptance gegenüber veganem Käse ist aktuell sehr gering. Die große Masse an Flexitariern kann man mit derartigen Produkten nicht überzeugen“, so Sommer.

(c) brutkasten / Viktoria Waba

Erst Ende April stellte der Verein für Konsumenteninformation (VKI) veganen Käsealternativen ein schlechtes Zeugnis aus: Die meisten Käse-Ersatzprodukte gehören laut der Studie zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln. Beim NutriScore, der Nährwerttabelle, schneiden sie vielfach schlechter ab als Milchprodukte. Insgesamt wurden 162 vegane Käse Alternativen getestet – und nur 28 Erzeugnisse wurden als „gut“ eingestuft.

Die Precision-Fermentation-Technologie

Sommer beschreibt die bestehenden Produktionsmethoden für veganen Käse als eine Art „Bottleneck“, den es zu lösen gelte. Und hier kommt die Lösung von Fermify ins Spiel: Sie nennt sich Precision Fermentation. Mikroorganismen wird dabei ein Kaseinprotein von Kühen eingeimpft. In einem weiteren Schritt produzieren diese „programmierten Bakterien“ Milchproteine: „Im Prinzip stellen wir Milchproteine her, halt einfach ohne Kühe“, so Sommer.

Der Ansatz der Precision Fermentation ist nicht neu – ursprünglich stammt er aus der biopharmazeutischen Branche, um Enzyme herzustellen. Seit ein paar Jahren findet er auch Anwendung in der Lebensmitteltechnologie. Als Beispiel nennt Sommer die Herstellung von Aromastoffen. Für die Produktion von veganem Käse wurde der Ansatz bislang aber noch nicht genutzt. Das hat auch einen Grund: „Precision Fermentation in der Lebensmittelindustrie ist wahnsinnig kostenintensiv. Hier kommen wir mit Fermify ins Spiel: Wir optimieren die Prozesse und machen sie Partnern in der Lebensmittelindustrie zugänglich.“

Im Zentrum steht eine digitale Produktionsplattform. Ein Digital Twin überwacht dabei kontinuierlich den Produktionsprozess. So kann sichergestellt werden, dass in den Bioreaktoren alles im kontrollierten Rahmen abläuft. Für die Technologie hat Fermify bereits zahlreiche Patente eingereicht. Zudem läuft auch ein entsprechendes Zulassungsverfahren durch die U.S. Food & Drug Administration (FDA) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA).

Das Geschäftsmodell

Und Sommer hat sich ein klar definiertes Ziel gesetzt: Bis 2027 soll sich veganer Käse mithilfe der Technologie zum gleichen Preis produzieren lassen wie sein tierisches Pendant. Langfristig sollen die Kosten gar niedriger werden. Den Käse wird Fermify jedoch nicht selbst produzieren. Sommer „Unser Businessmodell sieht so aus, dass unsere Kunden diese Kasein-Milchproteine selbst inhouse herstellen können. Wir liefern ihnen den Prozess und alles, was sie dafür benötigen; angefangen von Software über Stämme bis hin zum Medium.“

Eigentlich hätte ich bereits in Pension gehen können. Nun stehe ich jeden Tag zwischen vier und fünf Uhr in der Früh auf, um in Ruhe über meine Entscheidungen reflektieren zu können.

Eva Sommer

Für die benötigten Maschinen möchte das Startup mit Anlagenbauern kooperieren. Über eine Provision für jede verkaufte Anlage soll zudem ein weiterer Revenue-Stream entstehen. Die Prozesstechnologie wird wiederum über ein Lizenzmodell vertrieben. “Unsere Module werden 20.000 Liter groß sein und lassen sich je nach Bedarf erweitern“, so Sommer. Derzeit arbeitet Fermify an der Errichtung einer 200-Liter Anlage. Dementsprechend gibt es in Bezug auf die technische Skalierung noch viel Potenzial. Damit der Businessplan aufgeht, müssen die Maschinen. künftig möglichst einfach zu bedienen sein. „Wir verfolgen ein klares Ziel: Künftig sollen unsere Kunden keine hochkarätigen Wissenschaftler mehr benötigen, um die Anlagen zu betreiben. Einfache Techniker müssen dafür auch ausreichen“, sagt Sommer.

Der internationale Zukunftsmarkt

Zur Zielgruppe von Fermify zählen in erster Linie Molkereien. Die Nachfrage ist laut Sommer gegeben: So haben mittlerweile über 80 Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie ihr Interesse an einer Zusammenarbeit angekündigt. Anfragen kommen aus der ganzen Welt, unter anderem aus Europa, den USA, Singapur und Japan. Entsprechend viel ist Sommer unterwegs, um mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten.

Während des Gesprächs verrät sie, dass sie bereits ihre nächste Geschäftsreise nach Japan plant. Allein im letzten Jahr war sie dreimal dort. Sommer versucht so, ihr privates Fernweh mit ihrem Beruf zu verbinden: „Wenn ich gestresst bin, entscheide ich mich manchmal spontan, wegzufliegen. Dabei komme ich auch auf neue Gedanken.” Auf ihren Reisen zu potenziellen Partnern oder Kunden wird sie manchmal auch von ihrer Hündin begleitet.

(c) brutkasten / Viktoria Waba

International ist auch ihr Team aufgestellt: Am Standort Wien arbeiten über 13 unterschiedliche Nationalitäten. Dazu zählen weltweit führende Spezialist:innen für Precision Fermentation, etwa aus den USA oder Chile. Zudem unterhält Sommer enge Beziehungen zu Universitäten aus ganz Europa, um an die nötigen Talente im Bereich Food Science zu kommen. Trotz der globalen Ausrichtung will Sommer mit Fermify in Österreich bleiben: „Wir haben ideale Rahmenbedingungen und erhalten auch von der Austria Wirtschaftsservice und der FFG sehr gute Unterstützung.“

Die Rolle der Landwirte

Fermifys Vision, die weltweite Milchwirtschaft auf den Kopf zu stellen, wirft jedoch auch eine grundlegende Frage auf: Welche Rolle werden Landwirte künftig in dieser neuartigen Wertschöpfungskette einnehmen? Die Befürchtung, dass sie mit der neuen Produktionsmethode ihre Erwerbsgrundlage verlieren, kann Sommer nicht nachvollziehen: “Es wird immer jemanden benötigen, der Zucker herstellt. Nur so können wir die benötigten Proteine erzeugen.“ Und sie merkt an: „Die ganze Energie, die jetzt in Kühe fließt, können wir uns im Prinzip sparen. Mit Fermify wandeln wir Zucker in Proteine um – nichts anderes macht eine Kuh auch.“ Der Ansatz von Fermify bietet einen weiteren Vorteil: So können künftig Milchproteine in Regionen produziert werden, in denen aktuell die Viehzucht nur mit sehr großem Energieaufwand möglich ist. “Im Mittleren Osten stehen die Kühe in gekühlten Hallen. Das ist nicht wirklich nachhaltig“, sagt Sommer.

Ihr Engagement beschränkt sich jedoch nicht nur auf Fermify – Sommer ist auch als Investorin aktiv. Zum Portfolio zählt beispielsweise das Wiener Foodtech-Startup Revo Foods. Das Unternehmen entwickelt vegane Fischalternativen und möchte künftig die Prozesstechnologie an B2B-Kunden in der Lebensmittelindustrie vertreiben (brutkasten berichtete).

Sommers persönlicher Antrieb

Strengere Klimaschutzvorschriften und die gestiegene Nachfrage nach klimaschonenden Produkten sind auch ein Grund, warum Molkereien global nach Alternativen suchen. Auf ihnen lastet ein enormer Innovationsdruck. „Für Fermify steht Nachhaltigkeit an erster Stelle“, sagt Sommer. Für sie persönlich ist Klimaschutz jedoch nur ein positiver Nebeneffekt ihrer Arbeit vielmehr geht es ihr um Tierrechte. Bereits im Teenageralter setzte sie sich aktiv für Tierschutz ein.

Als sie mir Shares angeboten haben, wusste ich nicht, was Shares sind. Ich wusste eigentlich gar nichts über Startups.

Eva Sommer

“Mit Fermify möchte ich nicht reich werden. Mein Interesse ist es, Tiere aus der Food-Value-Chain zu bekommen“, so Sommer. Ihr Engagement bezeichnet die Gründerin als „Effektiven Altruismus“. Der Begriff wird auch in der Tierrechtsbewegung verwendet. Tierleid zu reduzieren erachtet diese als eine wichtige moralische Priorität. Im Zentrum stehen kosteneffektive Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Eine persönliche Kosten-NutzenRechnung dazu stellt auch Sommer an: „Wenn ich acht Stunden auf der Straße stehe, kann ich vielleicht eine Person überzeugen, dass sie keinen Käse mehr aus Kuhmilch kauft. Wenn ich aber ein Produkt entwickle, das gar keine Kühe mehr braucht, habe ich viel mehr bewegt.“

Ihr Engagement beschränkt sich jedoch nicht nur auf Fermify – Sommer ist auch als Investorin aktiv. Zum Portfolio zählt beispielsweise das Wiener Foodtech-Startup Revo Foods. Das Unternehmen entwickelt vegane Fischalternativen und möchte künftig die Prozesstechnologie an B2B-Kunden in der Lebensmittelindustrie vertreiben.

Sommers Weg ins Unternehmertum

Eine Karriere als Seriengründerin und Investorin hat die heute 34-jährige Sommer nie angestrebt. Sie blickt auf einen für die Startup-Szene durchaus ungewöhnlichen Lebenslauf zurück: Mit 15 Jahren flog sie von der Schule; damals wurde sie auch vegan und begann, sich für Tierrechte zu engagieren. Mit 18 Jahren wurde sie Mutter. Nach einer Lehre holte sie auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach, später folgte ein Studium der Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur und der Technischen Universität in Wien.

(c) Fermify

“Nach der Matura habe ich mich entschlossen, Biotechnologie und Food Science zu studieren, weil es damals eben noch kaum Fleisch- und Milchalternativen am Markt gab“, erzählt Sommer. In der Forschung wollte sie aber nicht bleiben – ihr in Tagen, Nächten und Wochenenden in der Bibliothek gesammeltes Wissen sollte in konkrete Produkte überführt werden.

“Ich habe angefangen, auf LinkedIn Postings zu verfassen. Mein Ziel war es, im Cultivated-Meat-Bereich zu arbeiten.“ Die Nachfrage nach gut ausgebildeten Talenten war am Markt bereits damals hoch: „Ohne mich irgendwo zu bewerben, habe ich innerhalb von zwei Wochen zwölf Jobangebote bekommen.“

Das Leben nach dem Exit

Ein Angebot kam aus Belgien. Sommer: „Ich wurde von einem belgischen Startup für Cultivated Meat gefragt, ob ich ins Gründerteam kommen möchte.“ Das Angebot nahm sie 2019 an. “Als sie mir Shares angeboten haben, wusste ich nicht, was Shares sind. Ich wusste eigentlich gar nichts über Startups.“

Ihre Anteile an Peace of Meat, so der Name des Unternehmens, sollten sich bezahlt machen: Nur eineinhalb Jahre nach der Gründung wurde das Startup für 15 Millionen Euro an das israelische Unternehmen MeaTech 3D verkauft, das heute Steakholder Foods heißt. „Eigentlich wollte ich danach gar nicht mehr arbeiten“, so Sommer.

(c) bruktasten / Viktoria Waba

Das Leben genießen und nichts machen Das konnte sie dann aber doch nicht. Es folgten erste Investments in Food-Startups. Dann startete sie auch als Consultant für größere Unternehmen in der Lebensmittelindustrie. “In dieser Zeit habe ich festgestellt, wie schwer sich große Unternehmen damit tun, neue Technologien zu entwickeln.“ Dazu zählte auch die Entwicklung von veganem Käse.

An die Gründung von Fermify dachte Sommer damals allerdings noch nicht. Dies sollte sich je doch mit einem Anruf ihres ehemaligen TU-Professors Christoph Herwig ändern. Er verfügt über 30 Jahre wissenschaftliche Erfahrung; im Bereich Bioprocess Engineering gilt er als Koryphäe. “Christoph hat mich im September 2021 gefragt, ob wir gemeinsam etwas im Food-Bereich umsetzen wollen. Wir wussten bereits, dass wir etwas im B2B-Bereich machen, weil B2C nicht unsere Stärke ist.“ Zwei Monate später wurde Fermify als Unternehmen gegründet. Sommer arbeitete fortan mit ihrem ehemaligen Professor gemeinsam im Labor.

Vorliebe fürs Fundraising

Die erste Finanzierungsrunde sollte nicht lange auf sich warten lassen: Nach einer Bootstrapping Phase folgte 2022 die Pre-Seed-Runde für das Unternehmen. “Die erste Runde war sehr leicht zu closen. Die Investoren wollten eigentlich gar nicht wissen, was wir machen – sie haben einfach gesagt: ‚Wir investieren in euch!‘ Mein erster Exit war dafür wohl eine gute Voraussetzung“, schildert Sommer. Damals agierte das Unternehmen noch fernab der Öffentlichkeit. Spätestens im Mai 2023 änderte sich dies jedoch: Fermify kommunizierte eine viereinhalb Millionen Euro schwere Seed-Finanzierungsrunde (brutkasten berichtete).

Die Investoren wollten eigentlich gar nicht wissen, was wir machen. Die haben einfach gesagt: ‚Wir investieren in euch!‘

Als Lead-Investor beteiligte sich damals der renommierte ClimateTech-Fonds Climentum Capital; und auch Fund F von Female Founders, der in weibliche Gründerteams investiert, nutzte die Investmentmöglichkeit. Drei Monate später wurde die Runde um eineinhalb Millionen Euro erweitert – als Investoren beteiligten sich damals Cremer, ein weltweiter B2B-Lieferant von pflanzlichen Rohstoffen, und Interfood aus den Niederlanden, das ein globales Molkerei-Netzwerk betreibt.

Aktuell reicht der Runway für rund ein Jahr aus. Im Herbst 2024 möchte Sommer die nächste Finanzierungsrunde vorbereiten: „Fundraising macht mir enorm viel Spaß. Jedes Mal, wenn ich mit Investoren spreche, lerne ich etwas über unser Unternehmen dazu“, sagt sie. Das Leben als Gründerin, Investorin und Mutter erfordert aber auch viel Disziplin. Um im Sinne des Effektiven Altruismus möglichst viel Impact zu erzielen, muss auch der eigene Lebensstil angepasst werden „Eigentlich hätte ich bereits in Pension gehen können“, sagt Eva Sommer. Doch sie entschied sich, größer zu denken: „Nun stehe ich jeden Tag zwischen vier und fünf Uhr in der Früh auf, um in Ruhe über meine Entscheidungen reflektieren zu können.“



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Am diesjährigen Global Leaders Summit haben wir mit der dänischen Founderin Ida Tin gesprochen. Wie sie zur Mother of Femtech wurde und warum sie glaubt, Europa fehle die Vision.
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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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