Die Pleitewelle, die in der größten Wirtschaftskrise seit dem zweiten Weltkrieg zu erwarten wäre, bleibt weiterhin aus. Im Gegenteil: Die Zahl der Insolvenzen in Österreich sank auch im ersten Quartal 2021 laut Hochrechnung des KSV1870 wieder. Mittlerweile ist der Tiefststand seit 1977 erreicht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Auch Unternehmen, die finanziell schlecht aufgestellt waren, profitieren von den staatlichen Corona-Hilfen und können so die Zahlungsunfähigkeit künstlich abwenden.
“Undifferenzierte Großzügigkeit gehört gestoppt”
An diesem Umstand übt der Gläubigerschutzverband KSV1870 anlässlich der Präsentation der aktuellen Insolvenz-Statistik erneut heftige Kritik. “Wenn diese Entwicklung so weitergeht, wird Österreichs Wirtschaft mittel- und langfristig mit weitaus massiveren wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben, als das heute ohnehin schon der Fall ist”, schätzt Karl-Heinz Götze, Leiter KSV1870 Insolvenz. “Diese undifferenzierte Großzügigkeit gehört gestoppt, bevor auch gesunde Unternehmen von finanzschwachen Firmen in den Abwärtsstrudel getrieben werden”.
Man plädiere für ein sofortiges Ende des “praktizierten Gießkannen-Prinzips”. Doch die Maßnahmen wurden zuletzt weiter verlängert. Götze meint daher: “Eine regelrechte Insolvenzwelle ist aus heutiger Sicht am Horizont nicht erkennbar. Wann auch immer die Insolvenzzahlen steigen werden, gehen wir von einer stetigen Steigerung der Firmenpleiten aus. Dieser Anstieg wird bis in die Jahre 2022 und 2023 hineinreichen”.
Insolvenzen Q1 2021: Rückgänge in allen Teilstatistiken, paradoxes Bild bei Branchen
Konkret sank die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Österreich im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 59 Prozent auf 473. Zudem gab es in den ersten drei Monaten des Jahres mit der AIK Energy Austria GmbH und der “die EIGENTUM” Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft m.b.H. bislang nur zwei Großinsolvenzen mit Passiva von jeweils mehr als zehn Millionen Euro. Auch deswegen haben sich die geschätzten Verbindlichkeiten insgesamt im Vergleich zum ersten Quartal 2020 zuletzt um 86 Prozent auf 157 Millionen Euro reduziert. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum gibt es aktuell mit 1.723 Personen auch um 61 Prozent weniger betroffene Dienstnehmer. Ein ähnliches Szenario gibt es auf Gläubigerseite zu vermelden: 3.594 betroffene Gläubiger bedeuten ein Minus von ebenfalls 61 Prozent.
Besonders paradox ist das Bild im Branchenvergleich, wo gerade Sektoren, die besonders stark von der Krise betroffen sind, einen Starken Insolvenzen-Rückgang vermelden. Während im Jahr 2020 die Bereiche “Unternehmensbezogene Dienstleistungen” und das Gastgewerbe ganz vorne zu finden waren, ist es jetzt trotz allgemein guter Auftragslage die Bauwirtschaft (28 Prozent aller Insolvenzen), gefolgt von unternehmerischen Dienstleistungen (21 Prozent) und dem Gastgewerbe (10 Prozent). Doch Götze warnt: “Der harte Aufprall wird für viele Gastronomen spätestens dann erfolgen, wenn der künstliche Eingriff durch die Regierung beendet wird”.
Nachlese. Wo steht die österreichische Wirtschaft bei künstlicher Intelligenz zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT? Dies diskutieren Doris Lippert von Microsoft und Thomas Steirer von Nagarro in der ersten Folge der neuen brutkasten-Serie "No Hype KI".
Nachlese. Wo steht die österreichische Wirtschaft bei künstlicher Intelligenz zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT? Dies diskutieren Doris Lippert von Microsoft und Thomas Steirer von Nagarro in der ersten Folge der neuen brutkasten-Serie "No Hype KI".
Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.
„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.
Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.
Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen
Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“
Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft
Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.
Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.
Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.
Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“
Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit
Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.
“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.
Langfristiges Potenzial heben
Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“
Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“
Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?
Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.
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