24.09.2019

Höhle der Löwen: Marketing-Experten über die Startups aus Folge 4

Die Marketingexperten Alexander Oswald und Jan Gorfer beleuchteten die fünf Startups der Folge 4/2019 von "Die Höhle der Löwen" aus strategischer Perspektive und bewerteten das Marketingpotential der Produkte schon vorab. Zudem geben sie ihren Favoriten Preis.
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Höhle der Löwen, Marketing, OMG, Oswald, Kofer, Ottakringer, Futura,
(c) TVNOW / Bernd-Michael Maurer -Marketing-Experten bewerten u.a. den Supersoup Instant Eintopf von "La Ribollita" und Gründer Fabian Zbinden (2.v.r.).

Vergangene Woche holte sich SunCrafter, der Favorit unserer Marketing-Expertinnen, bei “Die Höhle der Löwen” kein Investment. Diese Woche versuchen sich Alexander Oswald (Geschäftsführender Gesellschafter der Futura GmbH und Präsident der Österreichischen Marketing-Gesellschaft) und Jan Gorfer (Marketingleiter Ottakringer und Vorstandsmitglied der Österreichischen Marketing-Gesellschaft) in der Beurteilung der fünf pitchenden Startups.

+++ Renjer: “Massiver Druck” nach DHDL-Investment +++


1. LaRibollita

Fabian Zbinden aus Bern möchte mit seinem Food-Startup LaRibollita die schnelle Verpflegung revolutionieren. Er entwickelte gemeinsam mit einer Lebensmittelingenieurin ein Instantgericht – frisches Gemüse, ergänzt mit roten Linsen und Gewürzen im Becher. Die LaRibollita-Suppen sind ohne Konservierungs- oder Zusatzstoffe, glutenfrei und vegan und in vier Minuten zubereitet. Bei “Die Höhle der Löwen” möchte Fabian Zbinden mit LaRibollita Kapital für den Rollout in der ganzen Schweiz und Deutschland aufstellen. Dafür bietet er den “Löwen” 42.000 Euro für 20 Prozent der Firmenanteile.

Die Einschätzung der Experten

Fabian Zbinden ist ein extrem authentischer Typ mit einer tollen Geschichte. Vom Koch der Stars in Hollywood zurück in die Schweiz als Betreiber eines Food-Trucks. Sein neuestes Projekt heißt LaRibollita, wahlweise ein Gemüseeintopf oder veganes Chili. Interessant ist das Produkt, da es vegan, bio und glutenfrei ist und darüber hinaus ohne Allergene, Zusatzstoffe oder Konservierungsmittel auskommt und dennoch für mindestens einen Monat im Kühlschrank haltbar ist. Leider ist LaRibollita bisher nur in der Schweiz, genauer gesagt in Bern, verfügbar.

Der Webauftritt ist gut, wenngleich auch etwas zu bildlastig. Es bräuchte auch mehr Inhalte, vor allem dauert es viel zu lang, um mehr über den Gründer und seine Story herauszufinden. Oft braucht man einfach einen Klick zu viel, um mehr über Fabian zu erfahren. Oftmals ist aber genau dieser eine Klick schon entscheidend. Auch aus SEO-Sicht wäre die Homepage noch ausbaufähig. Die Social-Media-Aktivitäten sind schon gut gesetzt, Facebook funktioniert gut und auf Instagram gibt es bereits sehr viele Reaktionen.

Dennoch fehlt uns am Ende des Tages die USP. Vegane Fertiggerichte sind mittlerweile breit verfügbar, da wird es auch für einen Spitzenkoch schwer, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Das Produkt wirkt sehr hochwertig und schön gemacht, aber gerade das Premiumsegment für Food ist sehr umkämpft und nicht leicht skalierbar.

Marketing-Tipp

Fabian sollte das Produkt nochmals überdenken und die USP besser herausarbeiten. Der Markt für LEH-Produkte ist schwer umkämpft und es braucht sowohl eine klare Differenzierung als auch einen sehr langen Atem um sich hier durchsetzen zu können. Letztlich hängt es unserer Meinung nach auch von seinen persönlichen Zielen ab, wie er sich in Zukunft positionieren möchte. Auf jeden Fall sollte Fabian seiner eigenen Philosophie treu bleiben. Sollten es am Ende auch nur zwei oder drei Foodtrucks sein – go for it!

2. Sirplus

Mit ihrem Social-Impact-Start-up Sirplus bieten die Gründer Raphael Fellmer und Martin Schott die Möglichkeit, “ganz einfach Lebensmittel zu retten und dabei Geld zu sparen”. Ihre Lösung: In sogenannten “Rettermärkten” und im eigenen Online-Shop verkaufen die beiden bereits abgelaufene Lebensmittel, die aber noch verwertbar sind. Um dieses Konzept in ganz Deutschland auszurollen, benötigen sie 700.000 Euro für sechs Prozent der Firmenanteile, um die sie bei “Die Höhle der Löwen” pitchen.

Die Einschätzung der Experten

Sirplus will die Lebensmittelwertschätzung stärken und bringt daher überschüssige und abgelaufene Lebensmittel über sogenannte “Rettermärkte” und einen bundesweiten Onlineshop zurück in den Kreislauf. Eine wirklich sympathische und wichtige Idee, die den Zahn der Zeit trifft, reden doch gerade alle Marketer von “purpose”.

Der Webauftritt ist optisch durchaus ansprechend, aus SEO-Sicht aber sehr optimierungswürdig. Social Media ist, was die Fan-Zahlen betrifft, zwar in Ordnung, wobei aufgrund der Reaktionsrate Instragram deutlich über Facebook zu stellen ist. Auch YouTube ist vorhanden, wobei die Views je Video noch sehr ausbaufähig sind.

Aus ideeller Sicht ist so ein Startup sehr wünschenswert, ob sich jedoch mittelfristig auch ein finanzieller Erfolg abzeichnet, lässt sich schwer einschätzen. Schließlich sollte die gesamte Lebensmittelindustrie gemeinsam mit dem Handel an Lösungen zur Vermeidung von Lebensmittelabfall arbeiten. Und damit stellt sich die Frage nach der Lebensdauer für Sirplus. Unserer Meinung nach sollte sich das Startup eher als Teil einer Kette und nicht als “Wir gegen die Marke” positionieren. Somit könnten Handelsunternehmen vom Know-how von Sirplus profitieren.

Marketing-Tipp

Sirplus sollte sich auf die Wiederverwertung und die Boxen konzentrieren und dafür rasch den Ausbau des Service optimieren. Dafür kann man auch mit Partnern für den Transport zusammenarbeiten. Wer weiß, wohin sich das Business noch entwickelt. Die direkte Zusammenarbeit mit Handelsunternehmen könnte Sirplus einen Boost verschaffen und die Positionierung als Experte festigen.

Höhle der Löwen, Marketing, OMG, Oswald, Kofer, Ottakringer, Futura,
(c) Ludwig Schedl – Alexander Oswald, Präsident der Österreichischen Marketing-Gesellschaft, durchleuchtet die heutigen DHDL-Kandidaten.

3. Mia Mia

Gründer Davor Petrovic arbeitet eigentlich an der Optimierung von Rauchmeldern. Dabei machte er zufällig eine erstaunliche Entdeckung: Eines der Bauteile, ein Metallgitter, hobelte seinen Fingernagel so glatt, dass das Licht auf der Nageloberfläche reflektierte. So wurde aus dem Entwicklungsingenieur ein Produktentwickler und heraus kam die “Mia Mia”-Nagelfeile. Ein Prototyp liegt bereits vor. Für die Marktreife fehlt Petrovic aber die Beauty-Expertise, daher sucht er einen strategischen Partner, der mit ihm den Nagelfeilen-Markt aufwirbelt. Bei “Die Höhle der Löwen” pitcht er um 90.000 Euro für 25 Prozent Firmenanteile.

Die Einschätzung der Experten

Eine neue Nagelfeile, die keine Risse verursacht: Das klingt grundsätzlich nach einer guten, aber nicht neuen Idee. Der Beauty-Markt ist ebenso umkämpft wie mit unzähligen Produkten bereits überschwemmt. Daher wird es definitiv schwer für Mia Mia, aus der breiten Masse herauszustechen. Eine Beurteilung des Produktes ist praktisch unmöglich, da es bislang nur einen Prototyp gibt und Produktbewertungen online daher noch vollkommen fehlen.

Der Webauftritt ist gelinde formuliert mehr als ausbaufähig und gleicht einer Baustelle. Auf der Webseite findet man kaum relevante Informationen über die Nagelfeile, außerdem sind keinerlei Videos oder Tests vorhanden. Wo steckt die Story hinter Mia Mia? Wir tappen hier, trotz Recherche, noch im Dunkeln. Gerade bei Beauty-Produkten wäre eine Einbindung von Social Media äußerst sinnvoll und die Zielgruppe könnte perfekt erreicht werden. Auch hier gibt es nichts vorzuweisen.

Marketing-Tipp

Das Produkt ist zwar noch im Prototypenstadium, dennoch kann man die Geschichte des Produktes viel besser verkaufen. Im Beauty Business leben Produkte von Reputation und Marke. Wenn es schon an Tests und Erfahrungen fehlt, wäre unsere Meinung nach in diesem Fall zumindest der Aufbau der Marke besonders wichtig. Welche Story steckt hinter Mia Mia? Was ist die USP? Der Aufbau von Social-Media-Kanälen unter Einbeziehung von Infuencern aus dem Beauty-Bereich scheint eine gute Option zu sein.

4. Medibino

Gründerin Susanne Kluba ist Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgin und Entwicklerin des Medibino-Babykissens, das eine Prophylaxe gegen Schädelverformungen bei Babys bieten soll. Dieses wächst mit dem Babykopf mit und kann im Kinderbett, im Kinderwagen oder im Kindersitz angewendet werden. Seit 2018 ist das Babykopfkissen als Medizinprodukt zugelassen und wird bisher online vertrieben. Bei “Die Höhle der Löwen” pitchen die Gründerin und ihre beiden Co-Founder um 350.000 Euro für 20 Prozent Firmenanteile.

Die Einschätzung der Experten

Die Erfinderin des Medibino Kissens ist eine wirkliche Expertin. Susanne Kluba ist Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgin. Aus ihrer täglichen ärztlichen Arbeit kennt sie mehr oder minder die schweren Formen von lagebedingten Schädeldeformationen und weiteren Schädelverformungen von Babys und Kleinkindern. Rund 790.000 Kinder werden jährlich in Deutschland geboren, rund 85.000 in Österreich – der Markt ist also da, aber gleichzeitig limitiert.

Denn nicht alle Eltern werden solch ein Kissen kaufen, zudem ist der Markt umkämpft. Recherchiert man kurz im Web und auf Amazon, so findet sich eine Vielzahl von alternativen Lösungen an Babykissen gegen Kopfverformung. Auf Amazon sind Produkte mit hunderten Bewertungen zu finden, im Web etliche Produkte, die auch klinisch überprüft wurden. Eine Schwierigkeit für Medibino liegt darin, dass der Hintergrund und der Lösungsansatz des Produktes relativ komplex zu erklären ist. Daher wäre die Erklärung des Problems grundsätzlich wichtig, um vielen Eltern und damit potenziellen Kunden den Vorteil des Produktes zu erklären.

Gerade in diesem Bereich muss Medibino in seiner Story nachlegen. Die Webseite ist sehr nüchtern gestaltet, SEO-technisch gibt es sehr viel zu verbessern. Social Media wird zwar verwendet, aber bei Weitem nicht ideal genutzt. Hier gebe es sehr viel Potenzial, um die Story von Medibino emotionaler zu besetzen.

Marketing-Tipp

Experte sein und als Experte von Laien verstanden zu werden, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wir raten zu einer emotionaleren Story. Dafür sollte sich die Gründerin mehr Marketingkompetenz an Bord holen, um die USP des Medibinos für alle potentiellen Nutzer klar verständlich herauszuarbeiten. Das Potenzial ist ebenso wie die Zielgruppe definitiv vorhanden, muss aber noch viel stärker ausgeschöpft werden.

Höhle der Löwen, Marketing, OMG, Oswald, Kofer, Ottakringer, Futura,
(c) Ludwig Schedl – Jan Gorfer, Präsident der Österreichischen Marketing-Gesellschaft: “Experte sein und als Experte von Laien verstanden zu werden, sind zwei verschiedene Paar Schuhe”.

5. DeineStudienfinanzierung

Es gibt es eine Vielzahl an Förderungen und Stipendien zur Studienfinanzierung. Doch viele Studenten scheuen die Bürokratie oder wissen nicht, welche Möglichkeiten für sie in Frage kommen. Bastian Krautwald, David Meyer und Alexander Barge haben mit deineStudienfinanzierung eine digitale Plattform geschaffen, die Studierende “von der ersten Antragstellung bis hin zum letzten zurückgezahlten Euro” bei der Finanzierung ihres Studiums schnell und unkompliziert gegen eine Gebühr unterstützen soll. Für das weitere Wachstum pitchen die drei Gründer bei “Die Höhle der Löwen” um 500.000 Euro für 12,5 Prozent Firmenanteile.

Die Einschätzung der Experten

Eine Webseite, die übersichtlich Behördenwege zum Thema Studienfinanzierung transparent macht, Hilfe bei Anträgen bietet und die Finanzierung eines Studiums vereinfachen will. Kurzum, ein Unternehmen, das das Leben und Studieren einfacher macht. Solche Ansätze sind immer spannend und bieten einiges an Potenzial: Es gibt eine klar definierte Zielgruppe, klare Bedürfnisse und einen Prozess, der durch Digitalisierung deutliche Vereinfachungen bringt.

DeineStudienfinanzierung besticht durch eine klare und gute Umsetzung. Die Inhalte auf Web und Social Media sind einfach, klar und verständlich. SEO kann man allerdings noch optimieren. Auf Social Media wird eindeutig auf Reichweite und weniger auf Community gesetzt, blickt man auf Posts versus Ads.

Dass die Gründer wirklich einen professionellen und guten Job machen, sieht man auf Trustpilot mit 44 Bewertungen und der Traumquote von 100 Prozent. Hervorragend sind auch die 15 Bewertungen auf Kununu mit einem Punktedurchschnitt von 4,71. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht und das gefällt uns. Als einziges Problem sehen wir allerdings das Risiko, dass man das Modell von DeineStudienfinanzierung theoretisch relativ leicht nachahmen könnte.

Marketing-Tipp

Macht unbedingt weiter so! Holt euch die nächste Finanzierung und skaliert weiter professionell nach oben. Das sieht vielversprechend aus. Wichtig wird es allerdings noch sein, das Geschäftsmodell langfristig abzusichern und den einen oder anderen exklusiven Deal einzufädeln.


Favorit der Experten in Folge 4/2019 von “Die Höhle der Löwen”

Unser persönlicher Favorit dieser Folge “Die Höhle der Löwen” ist DeineStudienfinanzierung. Da wirkt auf den ersten Blick (und ohne Finanzdaten) alles top. Medibino kann Potenzial haben, aber dafür fehlen uns Informationen zu Verkaufszahlen und (medizinischer) USP. Sirplus ist auf jeden Fall eine nachhaltige und tolle Idee, aber die Skalierung für Investoren bezweifeln wir.

⇒ LaRibollita

⇒ Sirplus

⇒ Mia Mia

⇒ Medibino

⇒ DeineStudienfinanzierung

⇒ ÖMG

⇒ Futura

⇒ Ottakringer

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“Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?”

Am diesjährigen Global Leaders Summit haben wir mit der dänischen Founderin Ida Tin gesprochen. Wie sie zur Mother of Femtech wurde und warum sie glaubt, Europa fehle die Vision.
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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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