03.09.2019

Höhle der Löwen: Marketing-Experten bewerten die heutigen Kandidaten

Die Marketing-Experten Alexander Oswald (GF Futura und Präsident der Österreichischen Marketing-Gesellschaft) und Manfred Gansterer liefern ihre Einschätzung zu den heutigen Teilnehmern der TV-Startup-Show "Die Höhle der Löwen". Dabei beleuchtet die Experten den Online-Auftritt der Startups sowie das Potential des Produkts. Und sie nennen ihren Favoriten für die aktuelle Sendung.
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Höhle der Löwen, Paudar, Sphery, Jagua for You, Wheel Blades, Skills 4 School, Marketing, Startup, TV, TV-Show
(c) TVNOW / Bernd-Michael Maurer - Janet Carstensen versucht mit ihren Tattoos die Investoren Judith Williams, NEO-Löwe Nils Glagau (2.v.l.) und Ralf Dümmel zu überzeugen.

Die beiden Marketingexperten Alexander Oswald und Manfred Gansterer nehmen die fünf Startups, die heute bei “Die Höhle der Löwen” zu sehen sind, genau unter die Lupe und bewerteten im Sinne eines “Sneak Peeks” für den brutkasten den Social Media-Auftritt, das Image und das Marketingpotential der Produkte schon vorab.

+++ Pitch Doktor Florian Kandler analysiert wieder “Die Höhle der Löwen” +++


1. Wheelblades

Bei Wheelblades von Patrick Mayer, der in jungen Jahren einen schweren Unfall hatte, handelt es sich um Schnee-Kufen für Rollstühle und Kinderwägen. Das Produkt soll anderen Menschen im Rollstuhl vor allem im Bereich Wintersport mehr Unabhängigkeit geben.

Die Einschätzung der Experten

Bei Wheelblades handelt es sich um ein innovatives Produkt, das rund um eine extrem glaubwürdige und persönliche Story aufgebaut wurde. Auch die eigene Nutzung des Gründers als Landschaftsfotograf ist Beweis genug, wie wichtig das Produkt für beeinträchtigte Menschen sein kann. Ein sicheres Fortkommen bei winterlichen Verhältnissen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder auch als gehbehinderter Mensch ist dank Wheelblades zweifelsfrei möglich. Zudem ist das Produkt vor allem für ältere Menschen auch noch gut erweiterbar.

Nach intensiver Recherche scheint Wheelblades konkurrenzlos zu sein. Offenbar brauchte es einen Betroffenen zur Lösung des vorhandenen Problems, allerdings muss sie deutlich besser kommuniziert werden. Der Imagefilm auf der Webseite ist wirklich gut, aber die restlichen Fotos und Informationen wurden nicht professionell zu Ende gedacht und vermindern so auch das vorhandene Potenzial.

Marktpotenzial

In Deutschland gibt es 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen, rund eine Million von ihnen, sprich 14 Prozent, sind auf einen Rollstuhl angewiesen. Zudem wurden in Deutschland alleine im Jahr 2017 rund 845.000 Kinderwägen verkauft. Alleine anhand dieser Zahlen offenbart sich das enorme Potenzial von Wheelblades.

SEO optimieren

Die Struktur der Webseite und Darstellung des Produktes sind unserer Meinung nach definitiv noch optimierbar. Bessere Fotos und die Zusammenführung mit Informationen als Download in einer Seite empfehlen sich. SEO-technisch ist die Webpage ebenfalls noch ausbaufähig. Gerade bei der angesprochenen Zielgruppe erwartet man sich deutlich mehr – nämlich eine barrierefreie Webseite. Eine (aktuell noch) vergebene Chance ist die Nutzung von Facebook – einerseits um bestimmte Zielgruppen direkt und kostengünstig anzusprechen und andererseits, weil das Produkt und die Story dahinter sehr “teilenswert” sind. Ein Wheelblade-Produkt – Ski für Fahrradanhänger und Kinderwagen – ist bereits auf Amazon zu finden. Leider gibt es vom angesprochenem Produkt allerdings nur ein Foto. Eine Story dazu fehlt vollends und somit auch Userbewertungen und -kommentare.

Marketing-Tipp

Das Produkt und die Story dahinter sind wirklich toll. Die Aufbereitung der Informationen und Darstellung sollte es ebenso sein: Barrierefrei für alle.

2. Skills4school

Skills4School ist eine Lern-App, mit der sich Schüler optimal auf Prüfungen vorbereiten können sollen.

Die Einschätzung der Experten

Skills4school vom 19-Jährigen Rubin Lind will Smartphones, die die meisten Kinder heutzutage ohnehin haben, mittels einer App zum Lerntool machen. Grundsätzlich handelt es sich unserer Meinung nach um einen guten Gedanken, denn die Sinnhaftigkeit von personalisiertem und interaktivem Lernen ist mittlerweile hinlänglich bekannt.

USP-Kommunikation und Online-Auftritt

Die Aufbereitung der Story ist grundsätzlich gut, aber so ganz will sich uns nicht erschließen, warum diese App im Vergleich zu anderen wirklich besser ist. Die Webseite ist modern, mobil optimiert und auch in puncto SEO grundsätzlich in Ordnung. Was die Seitenqualität betrifft, ist der Online-Auftritt noch ausbaufähig. Insbesondere die Textinhalte, -längen und Bilder müssen noch optimiert werden. Vor allem sollte das Video nicht so stark auf die Entstehungsgeschichte fokussieren, sondern vielmehr die Produktfeatures in den Vordergrund rücken.

Zu wenige Follower

Die Nutzung von Social Media ist gerade was den Gründer anbelangt viel zu gering ausgeprägt. Twitter und Facebook sind vorhanden, die Follower-Zahl aber erschreckend gering. Instagram ist auch da, aber auch hier sind die Interaktionsraten deutlich zu niedrig.

Feedback und Bewertung unterschiedlich

Die Bewertung in den App-Stores fällt sehr unterschiedlich aus (iOS 4,5 und Android 3,8). Der niedrige Android-Wert dürfte an technischen Problemen liegen. Inhaltlich wird die App sehr gelobt. Schade, dass diese Feedbacks kaum in anderen Kanälen vorkommen bzw. genutzt werden – denn gerade User-Feebacks würden in Bezug auf Glaubwürdigkeit und Image sicher weiterhelfen.

Unser Marketingtipp

Eine sehr gute Idee braucht auch eine sehr gute Umsetzung. “Wahrnehmung ist Realität” und für die Wahrnehmung braucht es ebenso viel Aufwand.

Höhle der Löwen, Paudar, Sphery, Jagua for You, Wheel Blades, Skills 4 School, Marketing, Startup, TV, TV-Show
(c) APA/Ludwig Schedl – Marketing-Experten Alexander Oswald und Manfred Gansterer wagen erneut den Blick in die Marketing-Glaskugel und bewerten die pitchenden Startups von “Die Höhle der Löwen”.

3. Paudar Bratpulver

Paudar von den Hobbyköchen Johannes Schmidt und Deniz Schöne ist ein Pulver, das als Bratfett genutzt werden kann.

Die Einschätzung der Experten

Paudar Bratpulver ist ein pflanzliches Bratfett in Pulverform. Es soll damit hoch erhitzbar, leicht dosierbar sein und lästige Fettspritzer reduzieren. Diese Produktbeschreibung klingt auf den ersten Blick nach einer spannenden Idee.

Der zweite Blick

Auf den zweiten Blick tut sich allerdings ein Universum an Fragen auf. Vor allem, für wen dieses Produkt überhaupt entwickelt wurde? Für Koch-Fans, gesundheitsbewusste Esser oder doch den Otto-Normalverbraucher? Irgendwie wird man aus der Beschreibung der beiden Wirtschaftsingenieure und Hobbyköche, die das Bratpulver erfunden haben, nicht so wirklich schlau. Und aktuell wirkt es auch etwas technisch, frei nach dem Motto: Wir haben es gemacht, weil es möglich ist – trotz der sehr professionellen Aufbereitung.

Mangelnde Kundenperspektive

Unserer Meinung nach fehlen viele Basisinfos. Nirgendwo ist ein Video zur tatsächlichen Anwendung zu finden. Keine Hinweise – zumindest leicht zu sehende – in puncto Dosierung für die Zubereitung unterschiedlicher Lebensmittel. Hier setzen die Entwickler zu viel Know-how des Kunden voraus.

Im Marketing ist es wichtig, die Kundenperspektive einzunehmen, auch wenn aus Erfindersicht vieles banal erscheinen mag. Zudem ist der Preis mit knapp 40 Euro pro Kilogramm durchaus ambitioniert.

Ansprechende Webseite

Die Webseite ist optisch am Desktop und mobil wirklich ansprechend, aber die Qualität und Tiefe der Informationen zu kurz und dürftig. Dabei zeigen sich auch SEO-technisch Verbesserungsmöglichkeiten. Facebook und Instagram werden genutzt. Die Anzahl der Follower und Interaktion sind aber auf sehr niedrigem Niveau.

Unser Marketingtipp

Eine professionelle Umsetzung und Darstellung erspart nicht die glasklare Positionierung des Produktes. Das fehlt hier. Man wird mit den Fragen und einer klaren Ansprache nicht abgeholt.

4. Jagua for you

Jagua for You von Janet Carstensen produziert ein “natürliches Tattoo-Gel”, mit dem man Tattoos risikofrei etwa 14 tage lang testen können soll.

Die Einschätzung der Experten

Jagua Gel stammt von der im Amazonas wachsenden Jenipapo Frucht. Es soll damit absolut natürlich sein und eine dunkel blau-schwarze Farbe auf der Haut erzeugen, die wie ein echtes Tattoo aussieht. So weit, so gut.

Verwirrt waren wir etwas durch die abwechselnde Namensverwendung “Jagua for you” und “Mystic Ink”. Unserer Meinung nach sollte das etwas vereinfacht und zusammengelegt werden à la “Jagua Mystic Ink”. An und für sich ist die Namensgebung gut gewählt, weil mit dem Begriff Zaubertinte ein einzigartiges Produktversprechen suggeriert wird.

Soziale Medien zu wenig genutzt

Grundsätzlich ist die Aufbereitung sehr professionell und optisch gut gestaltet, auch mobil und SEO sind grundsätzlich in Ordnung. Das Video auf der Startseite ist ansprechend, verrät aber nicht wirklich viel. So wäre eine Anwendung des Produkts zweifelsfrei als erster Eindruck auf der Startseite zielführender als die Darstellung der Erfinderin. Facebook und Instagram werden – leider auch in diesem Fall – viel zu wenig genutzt. Schade bei diesem Produkt.

Positive und negative Amazon-Bewertungen

Bewertungen auf Amazon gibt es sehr viele und davon sind die meisten positiv. Es sind aber auch einige zu Hautreizungen und Unverträglichkeit dabei, die Anlass zur Sorge geben. Potenzial ist dennoch da, aktuell liegt das Produkt auf Amazon auf Platz 22 in der Kategorie temporäre Tattoos

Unser Marketingtipp

Eine gute Idee reicht nicht, da braucht es noch mehr Arbeit in Sachen Positionierung und Differenzierung. Der Markt für temporäre Tattoos ist groß und die Konkurrenz bietet kostengünstige und deutlich besser und öfter bewertete Alternativen.

5. Sphery

Sphery erzeugt ein zertifiziertes Fitnessgerät mit Gamingcharakter, den ExerCube. Die Idee dazu hatten die drei Gründer Stephan Niedecken, Helko Roth und Anna Martin-Niedecken.

Die Einschätzung der Experten

Der “ExerCube” ist eine Art Trainingsraum, auf dessen Wände Spielwelten projiziert werden. Während des Trainings über Bewegungssensoren und Pulsmesser wird die Performance des Sportlers gemessen. Sound, Schwierigkeitsgrad und Geschwindigkeit auf körperlicher und geistiger Ebene werden laufend individuell angepasst. Hauptzielgruppe sind Fitnessstudios. Auch die Eröffnung eigener Studios ist zukünftig geplant. Das Konzept ist aufgrund der Performance der Gründer seriös und durchdacht. Die Wirkung von Gamification ist bekannt und macht gerade im Sport durchaus Sinn.

Setzt dort an, wo Wii Fit aufgehört hat

Die Grundidee des “ExerCube” ist spannend und setzt dort an, wo die Wii Fit aufgehört hat. Es bleibt abzuwarten, ob und wie viele Fitnessstudios bereit für die Investition in das Wandsystem, drei Projektoren, einen PC, ein Soundsystem, einen Herzfrequenzsensor und ein spezielles Motion-Tracking-System sind. Dafür bräuchte es eigene Räume oder eine Kopfhörerlösung.

Auch wird es rasch neue Games oder andere Umgebungen brauchen, damit sich keine Langeweile oder Gewöhnung bei den Usern einstellt. Gerade im Gaming-Sektor ist bei den Konsumenten durch Erfahrungen mit Virtual Reality Systemen die Erwartungshaltung stark gestiegen, was bei der Entwicklung weiteren Contents berücksichtigt werden muss. Wir fragen uns, ob der Mehrwert tatsächlich gegeben ist und Sportler dafür entsprechend zahlen.

Mehr Social Media Nutzung wünschenswert

Die Webseite ist solide – am Desktop wie mobil. Gerade SEO-technisch gäbe es allerdings doch einiges zu verbessern. Auf Social Media werden Facebook, Instagram, Twitter und LinkedIn (durchaus kreativer Ansatz) zwar eingesetzt, aber kaum genutzt. Dieser Umstand wird vor allem durch niedrige Follower- und Interaktionswerte sichtbar.

Unser Marketingtipp

Die Kombination von vorhandenen Elementen – à la Wii Fit mit Spiel am Screen, Pulsfrequenzmessern und vielem mehr – in einem Produkt, ist keine Lösung an sich. Aktuell sehen wir beim “ExerCube” mehr Fragen als Antworten. Die Budgetplanung muss sicher viele Standorte in Fitnesscentern – die für den Anfang für die Betreiber kostenlos sind – berücksichtigen. Das ist nichts für die Low-end-Schiene mit Monatspreisen von 9,99  Euro aufwärts. Da muss eine zahlungswillige Zielgruppe im luxuriösen Umfeld erreicht werden. Und dieses Umfeld muss mit Wettbewerben, Meisterschaften und neuen Spielen entsprechend bei Laune gehalten werden. Da braucht es viel Ausdauer und Kondition.


Favorit der Experten in Folge 1/2019 von Die Höhle der Löwen

Unsere persönlichen Favoriten dieser Folge sind Wheelblades und Skills4school. Beide Produkte überzeugen aufgrund eines wirklich durchdachten und ausgereiften Konzeptes.

⇒ Wheelblades

⇒ Skills 4 School

⇒ Paudar Bratpulver

⇒ Jagua for You

⇒ Sphery

⇒ ÖMG

⇒ Futura

⇒ Zur Website der Startup-Show

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Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM AustriaIBMITSVMicrosoftNagarroRed Hat und Universität Graz.


Wo stehen wir wirklich, was die Adaption von künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft angeht? Diese Frage zu beantworten war eines der Ziele der Serie “No Hype KI“, die brutkasten anlässlich des zweijährigen Bestehens von ChatGPT gestartet hat. Die ersten fünf Folgen beleuchten unterschiedliche Aspekte des Themas und lieferten eine Bestandsaufnahme.

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Auch Marco Porak, General Manager von IBM in Österreich, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Er sieht das abgelaufene Jahr als eine Phase der Erkenntnis. Den Status Quo bei KI in Österreichs Unternehmen beschreibt er im Talk folgendermaßen: “Wir haben allerorts sehr viel ausprobiert, sind vielleicht da und dort auf die Nase gefallen”. Gleichzeitig habe es auch “schöne Erfolge” gegeben. Für Porak ist klar: “Die Frage der Stunde lautet: Wie machen wir jetzt von hier weiter?“

AI Act: “Jetzt müssen wir ins Tun kommen”

Ein großes Thema dabei ist der AI Act der EU. Jeannette Gorzala, Gründerin von Act.AI.Now, plädiert für eine pragmatische Haltung gegenüber der EU-Verordnung: “Der AI-Act ist ein Faktum, er ist da. Jetzt müssen wir ins Tun kommen.” Sie sieht in dem Regelwerk einen Wegweiser: “Wir müssen die entsprechenden Kompetenzen aufbauen und die Möglichkeiten nutzen, die diese Regulierung bietet. Das ist der Reiseplan, den wir brauchen.”

Auch Marco Porak sieht den AI Act positiv: „Er hat nicht die Algorithmen reguliert, sondern gesagt, was wir in Europa gar nicht wollen, etwa Sozialpunktesysteme oder Gesichtserkennung in Echtzeit.“ So entstehe für Unternehmen im globalen Wettbewerb ein Vorteil, wenn sie ihre KI-Anwendung nach europäischen Maßstäben zertifizieren lassen: „Das ist wie ein Gütesiegel.“

“Müssen positiv aggressiv reingehen, um unseren Wohlstand zu halten”

Hermann Erlach von Microsoft bezeichnet den Ansatz des AI Act ebenfalls als “gut”, betont aber gleichzeitig, dass es jetzt auf die Umsetzung von KI-Projekten ankomme: “Wir haben eine Situation, in der jedes Land an einem neuen Startpunkt steht und wir positiv aggressiv reingehen müssen, um unseren Wohlstand zu halten.”

Peter Ahnert sieht dabei auch ein Problem in der öffentlichen Wahrnehmung: KI werde tendenziell nicht nur zu klein gedacht, sondern meist auch in Zusammenhang mit Risiken wahrgenommen: “Es werden die Chancen nicht gesehen.” Woran liegt es? “Zu einem erheblichen Teil daran, dass noch zu wenig Bildung und Aufklärung an dem Thema da ist. In Schulen, in Universitäten, aber auch in Unternehmen und in der öffentlichen Hand.” Hier müsse man ansetzen, sagt der Nagarro-Experte.

Jeannette Gorzala sieht das ähnlich: “Bildung und Kompetenz ist das große Thema unserer Zeit und der zentrale Schlüssel.” Verstehe man etwas nicht, verursache dies Ängste. Bezogen auf KI heißt das: Fehlt das Verständnis für das Thema, setzt man KI nicht ein. Die Opportunitätskosten, KI nicht zu nutzen, seien aber “viel größer” als das Investment, das man in Bildung und Governance tätigen müssen. “Natürlich ist es ein Effort, aber es ist wie ein Raketenstart”, sagt Gorzala.

IBM-Programm: “Die Angst war weg”

Wie das in der Praxis funktionieren kann, schilderte IBM-Chef Porak mit einem Beispiel aus dem eigenen Unternehmen. IBM lud weltweit alle Mitarbeitenden zu einer KI-Challenge, bei der Mitarbeiter:innen eigene KI-Use-Cases entwickelten, ein – mit spürbaren Folgen: “Die Angst war weg.” Seine Beobachtung: Auch in HR-Teams stieg die Zufriedenheit, wenn sie KI als Assistenz im Arbeitsablauf nutzen. “Sie können sich auf die komplexen Fälle konzentrieren. KI übernimmt die Routine.”

Microsoft-Chef Erlach warnt auch davor, das Thema zu stark unter Bezug auf rein technische Skills zu betrachten: “Die sind notwendig und wichtig, aber es geht auch ganz viel um Unternehmens- und Innovationskultur. Wie stehen Führungskräfte dem Thema AI gegenüber? Wie steht der Betriebsrat dem Thema AI gegenüber?”, führt er aus.

Venture Capital: “Müssen in Europa ganz massiv was tun”

Soweit also die Unternehmensebene. Einen große Problemstelle gibt es aber noch auf einem anderen Level: Der Finanzierung von Innovationen mit Risikokapital. “An der Stelle müssen wir in Europa ganz massiv was tun”, merkte Ahnert an. Er verwies auf Beispiele wie DeepMind, Mistral oder Hugging Face, hinter denen jeweils europäische Gründer stehen, die aber in den USA gegründet, ihre Unternehmen in die USA verkauft oder zumindest vorwiegend aus den USA finanziert werden.

Der Nagarro-Experte verwies dazu auf eine Studie des Applied AI Institute, für die Startups aus dem Bereich generative KI zu den größten Hürden, mit denen sie es zu tun haben, befragt wurden. “51 Prozent haben Funding genannt. Weit abgeschlagen an zweiter Stelle mit 24 Prozent erst kam die Regulierung und unter 20 Prozent waren Themen wie Fachkräftemangel oder Zugang zu Compute Power.” Ahnerts Appell: “Bei dem Thema Finanzierung müssen wir was tun, damit wir in der nächsten Welle an der Spitze sind.”

Erlach: Adaption entscheidend

Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: “Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.” Die wichtigere Frage sei also: “Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?”

Marco Porak ergänzt: “Ganz, ganz wesentlich ist Mut. Ganz, ganz wesentlich ist unsere kulturelle Einstellung zu dem Thema.” Man müsse die Chancen sehen und weniger das Risiko. In der Regulatorik könne man dies begleiten, indem man Anreize schafft. “Und ich glaube, wenn wir das als Österreich mit einem großen Selbstbewusstsein und auch als Europa mit einem großen Selbstbewusstsein machen, dann haben wir in fünf Jahren eine Diskussion, die uns durchaus stolz machen wird.”


Die gesamte Folge ansehen:


Die Nachlesen der bisherigen Folgen:

Folge 1: “No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?”

Folge 2: “Was kann KI in Gesundheit, Bildung und im öffentlichen Sektor leisten?”

Folge 3: “Der größte Feind ist Zettel und Bleistift”: Erfolgsfaktoren und Herausforderungen in der KI-Praxis”

Folge 4: KI-Geschäftsmodelle: “Wir nutzen nur einen Bruchteil dessen, was möglich ist”

Folge 5: Open Source und KI: “Es geht nicht darum, zu den Guten zu gehören”


Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.

No Hype KI

03.02.2025

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Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala
Peter Ahnert, Hermann Erlach, Marco Porak und Jeannette Gorzala | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM AustriaIBMITSVMicrosoftNagarroRed Hat und Universität Graz.


Wo stehen wir wirklich, was die Adaption von künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft angeht? Diese Frage zu beantworten war eines der Ziele der Serie “No Hype KI“, die brutkasten anlässlich des zweijährigen Bestehens von ChatGPT gestartet hat. Die ersten fünf Folgen beleuchten unterschiedliche Aspekte des Themas und lieferten eine Bestandsaufnahme.

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Auch Marco Porak, General Manager von IBM in Österreich, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Er sieht das abgelaufene Jahr als eine Phase der Erkenntnis. Den Status Quo bei KI in Österreichs Unternehmen beschreibt er im Talk folgendermaßen: “Wir haben allerorts sehr viel ausprobiert, sind vielleicht da und dort auf die Nase gefallen”. Gleichzeitig habe es auch “schöne Erfolge” gegeben. Für Porak ist klar: “Die Frage der Stunde lautet: Wie machen wir jetzt von hier weiter?“

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Auch Marco Porak sieht den AI Act positiv: „Er hat nicht die Algorithmen reguliert, sondern gesagt, was wir in Europa gar nicht wollen, etwa Sozialpunktesysteme oder Gesichtserkennung in Echtzeit.“ So entstehe für Unternehmen im globalen Wettbewerb ein Vorteil, wenn sie ihre KI-Anwendung nach europäischen Maßstäben zertifizieren lassen: „Das ist wie ein Gütesiegel.“

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Hermann Erlach von Microsoft bezeichnet den Ansatz des AI Act ebenfalls als “gut”, betont aber gleichzeitig, dass es jetzt auf die Umsetzung von KI-Projekten ankomme: “Wir haben eine Situation, in der jedes Land an einem neuen Startpunkt steht und wir positiv aggressiv reingehen müssen, um unseren Wohlstand zu halten.”

Peter Ahnert sieht dabei auch ein Problem in der öffentlichen Wahrnehmung: KI werde tendenziell nicht nur zu klein gedacht, sondern meist auch in Zusammenhang mit Risiken wahrgenommen: “Es werden die Chancen nicht gesehen.” Woran liegt es? “Zu einem erheblichen Teil daran, dass noch zu wenig Bildung und Aufklärung an dem Thema da ist. In Schulen, in Universitäten, aber auch in Unternehmen und in der öffentlichen Hand.” Hier müsse man ansetzen, sagt der Nagarro-Experte.

Jeannette Gorzala sieht das ähnlich: “Bildung und Kompetenz ist das große Thema unserer Zeit und der zentrale Schlüssel.” Verstehe man etwas nicht, verursache dies Ängste. Bezogen auf KI heißt das: Fehlt das Verständnis für das Thema, setzt man KI nicht ein. Die Opportunitätskosten, KI nicht zu nutzen, seien aber “viel größer” als das Investment, das man in Bildung und Governance tätigen müssen. “Natürlich ist es ein Effort, aber es ist wie ein Raketenstart”, sagt Gorzala.

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Der Nagarro-Experte verwies dazu auf eine Studie des Applied AI Institute, für die Startups aus dem Bereich generative KI zu den größten Hürden, mit denen sie es zu tun haben, befragt wurden. “51 Prozent haben Funding genannt. Weit abgeschlagen an zweiter Stelle mit 24 Prozent erst kam die Regulierung und unter 20 Prozent waren Themen wie Fachkräftemangel oder Zugang zu Compute Power.” Ahnerts Appell: “Bei dem Thema Finanzierung müssen wir was tun, damit wir in der nächsten Welle an der Spitze sind.”

Erlach: Adaption entscheidend

Letztlich sei aber vielleicht gar nicht so entscheidend, wo eine Technologie produziert werde, argumentierte Hermann Erlach von Microsoft. Denn es komme auf die Adaption an: “Vielleicht ist die Diskussion Europa vs. Amerika in Teilbereichen die falsche.” Die wichtigere Frage sei also: “Wie adaptiere ich diese Technologie möglichst schnell, um meinen Wohlstand zu erhöhen?”

Marco Porak ergänzt: “Ganz, ganz wesentlich ist Mut. Ganz, ganz wesentlich ist unsere kulturelle Einstellung zu dem Thema.” Man müsse die Chancen sehen und weniger das Risiko. In der Regulatorik könne man dies begleiten, indem man Anreize schafft. “Und ich glaube, wenn wir das als Österreich mit einem großen Selbstbewusstsein und auch als Europa mit einem großen Selbstbewusstsein machen, dann haben wir in fünf Jahren eine Diskussion, die uns durchaus stolz machen wird.”


Die gesamte Folge ansehen:


Die Nachlesen der bisherigen Folgen:

Folge 1: “No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?”

Folge 2: “Was kann KI in Gesundheit, Bildung und im öffentlichen Sektor leisten?”

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Folge 4: KI-Geschäftsmodelle: “Wir nutzen nur einen Bruchteil dessen, was möglich ist”

Folge 5: Open Source und KI: “Es geht nicht darum, zu den Guten zu gehören”


Die Serie wird von brutkasten in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung unserer Partner:innen produziert.

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