13.07.2021

Guter Journalismus braucht kein Gesetz gegen Startup-Bashing

MEINUNG. In Deutschland hat ein Positionspapier eine Debatte um Pressefreiheit im Wirtschaftsjournalismus ausgelöst.
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© Unsplash/brutkasten/Montage
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Die deutsche Bundesregierung soll die Fachpresse per Erlass zur “ausgewogenen Berichterstattung” über Startups verpflichten, die einen Börsengang anstreben. So lässt sich ein Teil eines Forderungspapiers zusammenfassen, das von dem “Beirat Junge Digitale Wirtschaft” verfasst und auf der Website des deutschen Wirtschaftsministeriums veröffentlicht wurde. Der Beirat besteht aus namhaften Gründer:innen, berät die Regierung in Startup-Fragen und ist offensichtlich enttäuscht von Journalist:innen. Allen Beteiligten ist zwar ganz schnell nach dem ersten Bericht durch das Handelsblatt aufgefallen, dass der Wunsch nach politisch verordneter “Disziplin” in der Berichterstattung eine drastische Einschränkung der Pressefreiheit und damit ein Angriff auf demokratische Grundwerte wäre – das Ministerium hat sich distanziert, die Autoren sind zurückgerudert, das Papier ist nur noch einsehbar, weil im Internet nichts wirklich verschwindet.

Journalismus muss frei sein, ist aber nicht unfehlbar

Was aber bleibt ist ein schaler Nachgeschmack: Ist das in der Startup-Szene das Verständnis von Journalismus? Natürlich muss auch oder gerade Wirtschaftsjournalismus frei von Druck durch Politik und Unternehmen agieren können. In der zu Recht aufgebrachten Medienszene wird gerne auf das aktuelle Beispiel Wirecard verwiesen. Es ist bekannt, dass Wirecard immer wieder versucht hat, kritische Berichte durch Klagen zu unterbinden. Wie das ganze ausging, ist ebenfalls bekannt. Wenn kritische Berichterstattung angebracht, notwendig, Gebot der Stunde ist, muss sie möglich sein – das ist einer der Grundpfeiler von Demokratien, in denen die freie Presse auch ein Korrektiv ist.

Aber natürlich sind auch Redaktionen nicht unfehlbar. Und natürlich gibt es Redaktionen, in denen aggressiv um Klicks gebuhlt wird und was zieht ist jeder noch so kleine Fehler, der sich zu einem Skandal hochstilisieren lässt. Was bei großen Unternehmen notwendige Kritik ist, kann kleinere Unternehmen gehörig und vielleicht manchmal zu Unrecht ins Wanken bringen. Startups haben keine großen PR-Abteilungen, die die Message-Control perfekt beherrschen. Gründer:innen sind nicht von Beginn an Medienprofis. Gerade ganz junge Startups sind aber oft auf Medienberichte angewiesen, denn das ist es, was potenzielle Investoren lesen. 

Medial Unerfahrene nicht aufs Glatteis führen

Als brutkasten wollen wir uns ganz klar von Medien distanzieren, die sich auf Kosten unwissender Gründer:innen profilieren wollen, sie aufs Glatteis führen, um Klicks zu generieren. Wir sehen es als eine unserer Aufgaben, medial unerfahrene Gründer:innen darauf hinzuweisen, dass man sich bei Interviews oder Hintergrundgesprächen nicht in einem geschützten Raum befindet und jede on-record Aussage verwertet werden kann. Das machen wir in der Überzeugung, damit einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

Gerade deswegen ist es vollkommen inakzeptabel, in die journalistische Unabhängigkeit eingreifen und Medien per Dekret für PR-Zwecke einspannen zu wollen. Als Community-Medium pflegen wir sowohl enge Kontakte, als auch eine gesunde berufliche Distanz zur Wirtschafts- und Innovationsszene. Das eine schließt das andere nicht aus. Wir beschäftigen nur gut ausgebildete Redakteur:innen, die nach den journalistischen Grundsätzen arbeiten. Gleichzeitig sind wir kein innenpolitisches Aufdecker-Medium, sondern ein Medium für die Wirtschaft von morgen, ein Wirtschafts-, Innovations-, Technologie- und Finanzmedium, das qualitativer Branchenberichterstattung verpflichtet ist. Wir kritisieren, wo Kritik geboten ist, jedoch nicht als Selbst- oder gar Profilierungszweck.

Kleine Fehler oder echte Skandale?

Als brutkasten ist es uns wichtig, auch jungen Unternehmen eine Bühne zu bieten, neue Geschäftsmodelle und innovative Ideen vorzustellen. Kritik muss möglich sein, aber auf konstruktive Art und Weise: Als Chance zur Verbesserung, als Chance, daraus zu lernen. In diesem Sinne kann kritischer Journalismus Startups auch helfen, ihr eigenes Handeln zu reflektieren. Das ist auch vor einem IPO ein guter Realitätscheck. Unter diesem Deckmantel der Reflexion und Fehlerkultur soll aber niemals ein handfester Skandal wie jener von Wirecard verborgen werden – gute Journalist:innen kennen den Unterschied. 

Eure brutkasten-Redaktion: Sara Grasel, Dominik Perlaki, Michaela Schellner, Martin Pacher, Momcilo Nikolic, Dominik Meisinger und Herausgeber Dejan Jovicevic

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Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer)
Doris Lippert (Microsoft | Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung) und Thomas Steirer (Nagarro | Chief Technology Officer) | Foto: brutkasten

“No Hype KI” wird unterstützt von CANCOM Austria, IBM, ITSV, Microsoft, Nagarro, Red Hat und Universität Graz


Mit der neuen multimedialen Serie “No Hype KI” wollen wir eine Bestandsaufnahme zu künstlicher Intelligenz in der österreichischen Wirtschaft liefern. In der ersten Folge diskutieren Doris Lippert, Director Global Partner Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Österreich, und Thomas Steirer, Chief Technology Officer bei Nagarro, über den Status Quo zwei Jahre nach Erscheinen von ChatGPT.

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„Das war ein richtiger Hype. Nach wenigen Tagen hatte ChatGPT über eine Million Nutzer”, erinnert sich Lippert an den Start des OpenAI-Chatbots Ende 2022. Seither habe sich aber viel geändert: “Heute ist das gar kein Hype mehr, sondern Realität“, sagt Lippert. Die Technologie habe sich längst in den Alltag integriert, kaum jemand spreche noch davon, dass er sein Smartphone über eine „KI-Anwendung“ entsperre oder sein Auto mithilfe von KI einparke: “Wenn es im Alltag angekommen ist, sagt keiner mehr KI-Lösung dazu”.

Auch Thomas Steirer erinnert sich an den Moment, als ChatGPT erschien: „Für mich war das ein richtiger Flashback. Ich habe vor vielen Jahren KI studiert und dann lange darauf gewartet, dass wirklich alltagstaugliche Lösungen kommen. Mit ChatGPT war dann klar: Jetzt sind wir wirklich da.“ Er sieht in dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt, der KI aus der reinen Forschungsecke in den aktiven, spürbaren Endnutzer-Bereich gebracht habe.

Von erster Begeisterung zu realistischen Erwartungen

Anfangs herrschte in Unternehmen noch ein gewisser Aktionismus: „Den Satz ‘Wir müssen irgendwas mit KI machen’ habe ich sehr, sehr oft gehört“, meint Steirer. Inzwischen habe sich die Erwartungshaltung realistischer entwickelt. Unternehmen gingen nun strategischer vor, untersuchten konkrete Use Cases und setzten auf institutionalisierte Strukturen – etwa durch sogenannte “Centers of Excellence” – um KI langfristig zu integrieren. „Wir sehen, dass jetzt fast jedes Unternehmen in Österreich KI-Initiativen hat“, sagt Lippert. „Diese Anlaufkurve hat eine Zeit lang gedauert, aber jetzt sehen wir viele reale Use-Cases und wir brauchen uns als Land nicht verstecken.“

Spar, Strabag, Uniqa: Use-Cases aus der österreichischen Wirtschaft

Lippert nennt etwa den Lebensmittelhändler Spar, der mithilfe von KI sein Obst- und Gemüsesortiment auf Basis von Kaufverhalten, Wetterdaten und Rabatten punktgenau steuert. Weniger Verschwendung, bessere Lieferkette: “Lieferkettenoptimierung ist ein Purpose-Driven-Use-Case, der international sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und der sich übrigens über alle Branchen repliziert”, erläutert die Microsoft-Expertin.

Auch die Baubranche hat Anwendungsfälle vorzuweisen: Bei Strabag wird mittels KI die Risikobewertung von Baustellen verbessert, indem historische Daten zum Bauträger, zu Lieferanten und zum Bauteam analysiert werden.

Im Versicherungsbereich hat die UNIQA mithilfe eines KI-basierten „Tarif-Bots“ den Zeitaufwand für Tarifauskünfte um 50 Prozent reduziert, was die Mitarbeiter:innen von repetitiven Tätigkeiten entlastet und ihnen mehr Spielraum für sinnstiftende Tätigkeiten lässt.

Nicht immer geht es aber um Effizienzsteigerung. Ein KI-Projekt einer anderen Art wurde kürzlich bei der jüngsten Microsoft-Konferenz Ignite präsentiert: Der Hera Space Companion (brutkasten berichtete). Gemeinsam mit der ESA, Terra Mater und dem österreichischen Startup Impact.ai wurde ein digitaler Space Companion entwickelt, mit dem sich Nutzer in Echtzeit über Weltraummissionen austauschen können. „Das macht Wissenschaft zum ersten Mal wirklich greifbar“, sagt Lippert. „Meine Kinder haben am Wochenende die Planeten im Gespräch mit dem Space Companion gelernt.“

Herausforderungen: Infrastruktur, Daten und Sicherheit

Auch wenn die genannten Use Cases Erfolgsbeispiele zeigen, sind Unternehmen, die KI einsetzen wollen, klarerweise auch mit Herausforderungen konfrontiert. Diese unterscheiden sich je nachdem, wie weit die „KI-Maturität“ der Unternehmen fortgeschritten sei, erläutert Lippert. Für jene, die schon Use-.Cases erprobt haben, gehe es nun um den großflächigen Rollout. Dabei offenbaren sich klassische Herausforderungen: „Integration in Legacy-Systeme, Datenstrategie, Datenarchitektur, Sicherheit – all das darf man nicht unterschätzen“, sagt Lippert.

“Eine große Herausforderung für Unternehmen ist auch die Frage: Wer sind wir überhaupt?”, ergänzt Steirer. Unternehmen müssten sich fragen, ob sie eine KI-Firma seien, ein Software-Entwicklungsunternehmen oder ein reines Fachunternehmen. Daran anschließend ergeben sich dann Folgefragen: „Muss ich selbst KI-Modelle trainieren oder kann ich auf bestehende Plattformen aufsetzen? Was ist meine langfristige Strategie?“ Er sieht in dieser Phase den Übergang von kleinen Experimenten über breite Implementierung bis hin zur Institutionalisierung von KI im Unternehmen.

Langfristiges Potenzial heben

Langfristig stehen die Zeichen stehen auf Wachstum, sind sich Lippert und Steirer einig. „Wir überschätzen oft den kurzfristigen Impact und unterschätzen den langfristigen“, sagt die Microsoft-Expertin. Sie verweist auf eine im Juni präsentierte Studie, wonach KI-gestützte Ökosysteme das Bruttoinlandsprodukt Österreichs deutlich steigern könnten – und zwar um etwa 18 Prozent (brutkasten berichtete). „Das wäre wie ein zehntes Bundesland, nach Wien wäre es dann das wirtschaftsstärkste“, so Lippert. „Wir müssen uns klar machen, dass KI eine Allzwecktechnologie wie Elektrizität oder das Internet ist.“

Auch Steirer ist überzeugt, dass sich für heimische Unternehmen massive Chancen eröffnen: “Ich glaube auch, dass wir einfach massiv unterschätzen, was das für einen langfristigen Impact haben wird”. Der Appell des Nagarro-Experten: „Es geht jetzt wirklich darum, nicht mehr zuzuwarten, sondern sich mit KI auseinanderzusetzen, umzusetzen und Wert zu stiften.“


Folge nachsehen: No Hype KI – wo stehen wir nach zwei Jahren ChatGPT?


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