28.01.2019

„Mit digitalen Zwillingen das Unsichtbare sichtbar machen“

Interview: Digitale Zwillinge werden in der Industrie eingesetzt, um komplexe Prozesse von realen Maschinen zu simulieren. Wir haben mit Jivka Ovtcharova, führende Expertin für Virtual Engineering, über den konkreten Nutzen digitaler Zwillinge gesprochen und warum der Super-GAU von Tschernobyl ihre Karriere maßgeblich prägte.
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digitaler Zwilling
(c) Martin Pacher: Prof. Jivka Ovtcharova wurde 1957 in Bulgarien geboren und leitet derzeit das Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie

„Das Unsichtbare sichtbar machen“ ist Jivka Ovtcharovas zentrale Devise ihrer Forschung. Die gebürtige Bulgarin leitet derzeit das „Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen“ in Karlsruhe und gilt als Expertin für „Virtual Engineering“. Dahingehend forscht sie unter anderem zu digitalen Zwillingen. In einem ausführlichen Interview erklärte sie uns deren Nutzen für die Industrie. Zudem gab uns Ovtcharova persönliche Einblicke in ihre Karriere als Wissenschaftlerin und Denkanstöße, wie wir unsere digitale Zukunft „human“ gestalten können.

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In ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit digitalen Zwillingen. Worum handelt es sich bei digitalen Zwillingen?

Ein digitaler Zwilling ist grundsätzlich eine virtuelle Echtzeitabbildung der Struktur und des Verhaltens eines physischen Gegenstandes. Er begleitet und assistiert eine Anlage über deren gesamten Lebenszyklus – vom ersten Entwurf, über Konstruktion und Fertigung bis hin zur Wartung und Recycling. Ein derartiger Zwilling interagiert zu jedem Zeitpunkt mit seinem physischen Gegenstück und liefert wertvolle Daten über den Status und Zustand der Anlage.

Diese Daten werden meist in einer Cloud analysiert und anschließend mit anderen Daten aus der Laufumgebung verknüpft. Die Benutzer dieser Daten gehören zu verschiedenen Zielgruppen, wie Entwicklungs- und Fertigungsingenieure, aber auch Wartungspersonal und Daten-Analysten. Diese sind in der Lage auf die Daten aus verschiedenen Perspektiven zu blicken und aus der Ferne die Anlage zu überwachen und zu steuern.

Welche konkreten Anwendungsbeispiele gibt es für den Einsatz von digitalen Zwillingen?

Die Anwendungsbeispiele sind vielfältig. Nehmen wir als Beispiel die Windkrafträder: In Zukunft werden Energiebetreiber nicht nur über physische Windkrafträder verfügen, sondern auch über digitale Repliken dieser Windkrafträder. Das physische Windkraftrad wird dabei immer in Kontakt zu seinem digitalen Zwilling stehen. Dieser erhält Daten aus der realen Welt – in unserem konkreten Fall vom Windkraftrad – und analysiert diese anschließend.

Über virtuelle Zwillinge können wir beispielsweise, wie bei einem Tomograph, schon frühzeitig innere räumliche Strukturen ermitteln und erkennen, wann ein Windrad ausgetauscht werden muss, bevor es bricht. Dadurch könnten Wartungs- und Reparaturmaßnahmen kostengünstiger gestaltet werden, da die Techniker ins Innere „sehen“ können. Insbesondere bei Offshore-Windkraftanlagen ist die Wartung sehr teuer, da man spezielle Schiffe benötigt.

Wird es irgendwann mal auch digitale Zwillinge von Menschen geben?

Es macht natürlich Sinn über digitale Zwillinge in Bezug auf Menschen vorzudenken – insbesondere in der Gesundheitsvorsorge. Ärzte könnten Menschen viel schneller helfen, wenn sie sofort wissen, wie der Mensch aufgewachsen ist und welche Krankheiten er bereits hatte.

Angenommen Sie reisen in ein fremdes Land und der Arzt spricht ihre Sprache nicht. Über einen digitalen Zwilling würde er sofort wissen, wie ihr Organismus unter Berücksichtigung von Vorerkrankungen funktioniert, um anschließend die richtigen Schritte zu setzen. Die Herausforderung besteht darin, dass die digitalen Zwillinge wie Organismen funktionieren müssen. Und natürlich ist es auch eine Frage der Ethik, die wir immer mitdenken müssen.

Sie gelten als eine führende Expertin im Bereich „Virtual Engineering“ und haben eine beachtliche Karriere im Bereich der Wissenschaft und Technik vorzuweisen. Wie sind Sie mit Technik in Verbindung gekommen?

Die Begeisterung für die Technik kam sehr früh. Ich komme ursprünglich aus Bulgarien und unser Ausbildungssystem war stark durch die spielerische „Hands-On“-Erziehung geprägt. Den entscheidenden Anstoß zu meiner Wissbegierde für die Technik gab jedoch die Buch-Trilogie „100.000 Jahre Technik“, die mein Vater mir als Kind zu Weihnachten geschenkt hat. Das war ein spannendes, wunderbar illustriertes Buch, das mich so gefesselt hat, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen wollte.

Obgleich ich damals auch gerne mit Puppen gespielt habe, war das Technikbuch, was meine Fantasie beflügelte. Einen neuen Schub an Begeisterung für die Technik kam durch die Bekanntschaft mit der Tochter einer befreundeten Familie. Diese studierte Maschinenbau und ich durfte ihr beim Zeichnen mit Tusche zusehen. Ihre feminine Erscheinung in Kombination mit dem coolen Zeichenset war ansteckend.

Welchen Effekt hatten die damaligen technologischen Errungenschaften auf ihre Berufswahl?

Als Kind und Jugendliche habe ich in den 60er und 70er Jahren natürlich auch den faszinierenden Aufstieg der Raketen-, Atom- und Computertechnologie miterlebt. Es war eine großartige Zeit, da jeder Mensch das Recht hatte, großes zu leisten. So träumten wir damals, Jungs und Mädchen, wie Juri Gagarin, Walentina Tereschkowa oder Neil Armstrong in den Weltraum zu fliegen.

Auch Mathematik- und Physikunterricht waren das Nonplusultra unserer Bildung. Der Wunsch, an der Entwicklung bahnbrechender Technologien teilzuhaben hat mich zu einem Studium in Maschinenbau in Bulgarien und anschließend nach Moskau gebracht – damals für Osteuropa das Bildungs-Mekka schlechthin. Ich wollte eigentlich Raumschiffe und U-Boote bauen, schlussendlich bin ich aber bei Atomkraftwerken gelandet. Diese Technologie hat mich damals sehr begeistert, bis es im Jahre 1986 in Tschernobyl gekracht hat.

Hat der Super-GAU in Tschernobyl bei Ihnen ein Umdenken in Bezug auf die Nutzung der Atomtechnologie ausgelöst?

Ja, ich habe mich nach der Tschernobyl-Katastrophe neu orientiert – vom Maschinenbau- und Anlagenbau in Richtung Computertechnologie. Ich habe zu dieser Zeit in einem Forschungslabor der bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia gearbeitet. Das Labor war in das Zentrum für Physik eingegliedert und wir haben kurz nach der Explosion die Radioaktivität in den Parkanlagen der Stadt gemessen. Es war Anfang Mai. Nach langem Regen schien die Sonne wieder und die Natur sah sehr friedlich aus, solange uns nicht die Knackgeräusche der Geigerzähler die alarmierend hohen Werte der Radioaktivität vor Augen geführt haben. Diese Geräusche haben sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.

Weiterhin hat die Tschernobyl-Katastrophe zu einem Wendepunkt in der Nutzung der Atomenergie geführt und ich habe die negative Auswirkung dieser Wende auf meine berufliche Zukunft sehr schnell erkannt. Da ich mich bereits mit mathematischen Simulationen befasst habe, ist mir der Berufswechsel in Richtung Computertechnologie leicht gefallen.

Sie haben in Deutschland eine Initiative für eine „digitale humane Zukunft“ gestartet. Worum geht es dabei?

Die Digitalisierung versetzt die Welt, in der wir leben und arbeiten, in einen fundamentalen Umbruch. Wie nie zuvor wandeln sich ganze Branchen und Lebensstile. Neue Werte- und Geschäftsmodelle für und durch die Digitalisierung werden zur Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit jedes Einzelnen. Die Digitalisierung wirkt sich auch auf unser kulturelles Miteinander aus. Und natürlich lautet die wichtigste Frage, die sich jetzt stellt: Wie kann eine humane digitale Zukunft aussehen?

Wie kann eine derartige Zukunft aussehen? 

In erster Linie geht es darum, dass alle Menschen, die gleichen Chancen und gleichen Zugriff auf digitale Technologien haben. Digitale Bildung, Befähigung und Handlung für jeden Menschen, unabhängig von Schulabschluss, Alter und Herkunft, ist die Kernvoraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und den beruflichen Erfolg. Ziel meiner Digitalisierungsinitiative ist es daher, digitales Wissen nahtlos in alltägliche Fähigkeiten, berufliche Qualifikationen und wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle umzusetzen – schnell, pragmatisch und handlungsorientiert.

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Mittlerweile kann man mit Wearables viele Gesundheitsdaten tracken. © Unsplash

Dieser Text ist zuerst im brutkasten-Printmagazin von März 2025 “Hoch hinaus” erschienen. Eine Download-Möglichkeit des gesamten Magazins findet sich am Ende dieses Artikels.


Ob Schritte, Kalorien, Herzfrequenz oder Schlafqualität – Selbstvermessung ist für viele Menschen längst zur täglichen Routine geworden. Mithilfe von Fitnesstrackern, Apps und diversen Smartwatches behalten sie ihre Gesundheitsdaten im Blick, während Nahrungsergänzungsmittel und gezieltes Training den Körper fit halten sollen. Fast täglich entstehen neue Trends und Empfehlungen, die uns zu einem besseren Leben verhelfen sollen. Doch welche dieser Gesundheitstrends sind tatsächlich wissenschaftlich fundiert – und welche entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als bloße Mythen?

Piero Lercher beschäftigt sich als Sportmediziner mit aktuellen Gesundheitstrends. Er unterrichtet an der Medizinischen Universität Wien im Bereich Public Health und ist zudem Autor diverser Fachpublikationen und Bücher. Grundsätzlich sieht Lercher das zunehmende Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft positiv: „Alle Maßnahmen, die das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung, die sogenannte ‚Health Literacy‘, fördern, sind begrüßenswert und wichtig. Dazu gehören auch moderne Tracking-Methoden“, sagt Lercher. Trotzdem sei es wichtig, wissenschaftlich fundierte Informationen von Trends zu unterscheiden.

Dr. Piero Lercher beschäftigt sich als Sportarzt mit aktuellen Gesundheitstrends. © MedUni Wien

These 1: Wer seine Gesundheit trackt, lebt automatisch gesund.

Piero Lercher: Diese Verallgemeinerung kann man leider nicht machen. Das Tracking alleine ersetzt nicht die Einhaltung eines gesunden Lebensstils, die korrekte Einnahme von Medikamenten oder die Durchführung von Therapien. Das Tracken ist aber ein wertvolles Tool zur einfachen Kontrolle diverser Werte im Alltag.

These 2: Tracking-Geräte liefern verlässliche Messwerte – und somit ein vollständiges Bild der Gesundheit.

Piero Lercher: Hier ist die Qualität der Tracking-Geräte entscheidend bzw. mit welcher Technologie und mit welcher Genauigkeit die Messungen erfolgen. Problematisch wird es, wenn getrickst wird oder gefakte Messergebnisse präsentiert werden. Hier wäre eine Idee, ein Qualitätssiegel zu etablieren, ähnlich wie ein TÜV-Zertifikat im technischen Bereich oder eine FDA-Zulassung im medizinischen Bereich.

These 3: Gesundheitstracking kann Krankheiten zuverlässig vorhersagen.

Piero Lercher: In Kombination mit einem gut ausgebildeten Körpergefühl können dadurch tatsächlich Warnsignale erkannt werden. Durch falsche Anwendung und Fehlinterpretationen von Parametern sind aber auch ‚Fehlalarme‘ möglich: Man gerät unnötig in Panik – oder wiegt sich in falscher Sicherheit. Eine zuverlässige Diagnose erfolgt ausschließlich durch eine adäquate ärztliche Untersuchung.

These 4: Nahrungsergänzungsmittel können eine mangelhafte Ernährung verbessern.

Piero Lercher: Das Um und Auf ist und bleibt eine ausgewogene Ernährung mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. Das gilt auch im Spitzensport. Nahrungsergänzungen haben ausschließlich nach Feststellung eines Mangels zu erfolgen; beziehungsweise auch bei der detektierten Gefahr, dass sich in Kürze ein Mangel einstellen wird.

These 5: Man muss täglich 10.000 Schritte gehen, um fit zu bleiben.

Piero Lercher: Tatsächlich steckt hinter dieser Empfehlung ein genialer japanischer Werbegag, der unreflektiert übernommen wurde. Sportmedizinisch gesehen geht es primär nicht um eine spezifische Anzahl von Schritten, sondern um eine regelmäßig durchgeführte körperliche Aktivität, am besten an mehreren Tagen in der Woche. Das Schrittezählen ist mittlerweile eine beliebte Maßnahme, um den Bewegungsumfang zu bewerten; sportmedizinisch ist aber von Interesse, mit welcher Geschwindigkeit diese Schritte gemacht wurden – und es macht auch einen Unterschied, ob man in der Ebene oder bergauf und bergab geht.

These 6: Fitnesstracking kann zu gestörtem Essverhalten oder Kontrollzwang führen.

Piero Lercher: Ja, das ist tatsächlich so. Viele Menschen verlieren ihr natürliches Körpergefühl und ordnen ihr Leben dem Tracking unter oder verfallen in einen Zwang, permanent die aktuellen Werte abrufen zu müssen. Besonders gefährdet sind hier Kinder und Jugendliche in sensiblen Lebensphasen. Das heißt: Auch richtiges und gefahrloses Tracking will gelernt sein und ein gesunder Lebensstil muss von den Eltern und Erziehungsberechtigten vorgelebt werden.

These 7: Stress verkürzt die Lebenszeit.

Piero Lercher: Physiologisch gesehen ist Stress eine Anpassung an eine Belastungs- oder Bedrohungssituation, die den Organismus für eine körperliche Aktivität vorbereitet. Einfach erklärt: Der Säbelzahntiger bedroht uns und wir flüchten vor ihm. Nach gelungener Flucht entspannen wir uns und die Stressreaktion wird abgebaut. Der moderne Mensch wird zwar nicht vom Säbelzahntiger bedroht, aber aufgrund unterschiedlicher Stressoren in einen Alarmzustand gebracht, auf den dann keine körperliche Reaktion folgt.

Wenn so ein Stresszustand länger anhält, ist das tatsächlich gesundheitsgefährdend. So haben gestresste Menschen beispielsweise Blutdruckkrisen oder hohe Ruhepulse. Das ist dann etwa so, als würde man mit einem Auto im ersten Gang 200 km/h fahren. Das kann nicht gesund für den „Motor“ sein.

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