29.03.2021

Die Gründe für die “Remote-Erschöpfung” und wie wir sie umgehen können

In seiner aktuellen Kolumne beschäftigt sich Mic Hirschbrich mit dem Phänomen der "Remote-Erschöpfung". Zudem liefert er Lösungsansätze, wie wir digitale Online-Meeting-Tools verwenden können, damit sie uns unterstützen und nicht überfordern.
/artikel/die-remote-erschoepfung
Remote-Meeting
(c) Adobestock

Sie erinnern sich bestimmt an den Beginn dieser Pandemie! Es sei die Chance, über gesellschaftlichen Wandel und neue Werte nachzudenken, hieß es da zum Beispiel von manchen Zukunftsforschern. Zusätzlich führe die Pandemie dazu, eine völlig neue Arbeits-Kultur zu etablieren. Home-Office sei nun bewiesenermaßen gut umsetzbar, auch dank neuer digitaler Video-Konferenz-Tools.

Und tatsächlich hat sich bestätigt, dass man nicht immer den mühsamen Weg in das Büro antreten muss und man auch gut von zuhause aus arbeiten kann. Etliche Arbeitgeber haben gelernt, dass sie ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vertrauen können und erkennen selbst die Vorteile vom Home-Office.

Die digitale Erschöpfung nimmt zu

Gleichzeitig aber haben viele einfach genug davon, am umfunktionierten Küchentisch und dem unbequemen Sessel ihre Arbeit zu erledigen und ständig Video-Telefonate führen zu müssen, während sie womöglich zeitgleich ihre Kinder schulisch betreuen. Das kinderlose Paar mit großzügigem Haus im Grünen, in dem jeder ein eigenes Büro eingerichtet hat und wo man gemütlich vom Frühstück aufsteht und entspannt mit dem Zweitkaffee zum ersten Konferenz-Call geht, ist eben die Ausnahme, nicht die Regel.

Und so ist der Befund nach einem Jahr Corona durchwachsen. Die Menschen sind heute vor allem müde. Die Lust auf gesellschaftlichen Wandel ist dem Kampf um die Existenz gewichen oder zumindest der Sehnsucht nach dem alten Leben, der alten Freiheit. Worüber aber jedenfalls viel zu wenig gesprochen wird, ist unsere digitale Erschöpfung, vor allem von den vielen Video-Konferenzen.

Studie zeigt Gründe für „Zoom Fatigue“.

In einer neuen Studie der Universität Stanford analysiert Professor Jeremy Bailenson die negativen Konsequenzen des Zoom-Booms und meint damit alle heute etablierten Video-Konferenz-Tools. Neben den offenkundigen Vorteilen dieser Applikationen wird nämlich immer häufiger eine „Remote-Erschöpfung“ wahrgenommen, die in der Community als “Zoom Fatigue” bezeichnet wird.

Die 4 Ermüdungs-Gründe im Detail:

Ständiger Augen-Kontakt kann überfordern

In physischen Gesprächen würde man sich bei Meetings Notizen machen, den Blick im Kreis schwenken und Abwechslung fürs Auge suchen. Bei Video-Konferenzen aber starren wir alle tendenziell permanent auf einander und fordern damit implizit ein anderes, deutlich anstrengenderes Gesprächs-Verhalten ein. Der Augenkontakt bei Online-Meetings wird laut Messungen deutlich intensiviert im Vergleich zu physischen Treffen. Helfen kann hier, den Fullscreen-Modus regelmäßig abzuschalten und, wenn möglich, die Video-Übertragung auch mal zu pausieren. Dies sollte kulturell unbedingt akzeptiert werden.

Das permanente Selbstbild strengt zusätzlich an.

Zwar mag es einem Sicherheit geben, sich selbst zu sehen, nur es ist unnatürlich und das menschliche Gehirn ist es zudem nicht gewohnt. Hier empfiehlt es ich die Eigenansicht regelmäßig zu deaktivieren.

Eingeschränkte Mobilität

Dass viele von uns zugenommen haben während der Pandemie ist mittlerweile bekannt. Dass Video-Konferenzen sich aber besonders negativ auf unsere Mobilität auswirken, hat selbige Studie nun gezeigt. Früher ging man am Telefon manchmal stundenlang herum. Bei physischen Treffen galt es vor einem Treffen eine Distanz zu überwinden, sei es innerhalb eines Gebäudes oder oft weiter. Für die Psyche waren diese Wege genauso erholsam und wichtig wie für den Körper, auch wenn etliche Reisen das Klima sicher unnötig belasteten.

Professor Bailenson empfiehlt hier, bei Video-Calls seine oder die Zweitkamera in einer größeren Distanz aufzustellen und sich zu erlauben, ähnlich wie bei physischen Treffen, zwischendurch ein Getränk zu holen oder im Stehen oder Gehen zu sprechen.

Die kognitive Beanspruchung ist viel größer

Bei Online-Konferenzen fallen non-verbale Kommunikationselemente praktisch völlig weg. Ob unbewusst oder nicht, sind diese aber wichtig. Wir kompensieren unbewusst nämlich diese fehlenden Signale durch eine erhöhte Konzentration auf das Gegenüber. Auch hat man festgestellt, das gewisse Gesten online anders interpretiert werden als physisch. Hier kann nur helfen, sich ab und an eine „Audio-only“-Pause zu gönnen und sich bewusst vom Bildschirm wegzudrehen.

Besser richtig digitalisieren statt analoge Meetings zu kopieren!

Forscher warnen davor, die oben beschriebenen Defizite zu ignorieren. Diese führten zum Beispiel zu einer starke Reduktion wichtiger Hormone, wie dem Oxytocin, zuständig für unser Belohnungssystem, das bei physischen Kontakten ausgeschüttet wird. Ein weiterer Nebeneffekt sei, dass wir uns bei digitalem Meetings die anderen Menschen weniger gut merken und auch viel schwächer mit ihnen „bonden“ würden. Es fehlten einfach zu viele Signale.

Man kann all diese Dinge sicher einige Wochen und Monate überbrücken, aber eben nicht dauerhaft. Die Art wie wir digitale Tools einsetzen, folgt nämlich auch hier einem altbekannten Schema, das wir schon mal in einer eigenen Kolumne thematisierten: Wir digitalisieren analoge Prozesse, indem wir sie einfach 1:1 digital gestalten. Und diese Form der Digitalisierung hebt fast nie die echten Potentiale digitaler Prozesse, sondern versucht in Wahrheit die analoge Kultur beizubehalten. Das konserviert alte Schwächen und führt mitunter zusätzlich zu neuen. Sinnvoller wäre es, in der Digitalisierung notwendige Prozesse neu zu denken und die Arbeitskultur neu zu prägen.

Digitale Tools sollen unterstützen, nicht überfordern

Um beim Beispiel zu bleiben: In Zoom-Meetings also genauso oder ähnlich zu kommunizieren, wie in physischen, macht keinen Sinn. Dies war zu Beginn der Pandemie eine Form von „Not-Digitalisierung“, die man langfristig aber adaptieren muss. Also gilt es zu experimentieren und neue Wege zu finden, wie digitale Kommunikations-Prozesse unserer menschlichen Natur besser entsprechen. Wir hatten noch keine Pandemie und damit einen derart großen Bedarf an digitaler Kommunikation, dieser Anpassungsdruck sollte uns folglich nicht überraschen.

Gute Digitalisierung heißt ja nicht zwingend, mehr digitale Geräte oder Tools nutzen zu müssen. Das wäre eine alte Denkweise. Vielmehr sollten digitale Tools und Automatisierungen dem Menschen dienen, ihn in seinen Stärken stützen, anstatt ihn neu zu überfordern. Die Digitalisierung soll uns gerne produktiver, aber dabei auch glücklicher und freier machen, denn das wirkt nachhaltiger und qualitätsvoller in allen Dimensionen.

Slack setzt auf “asynchrone Kommunikation”

Einen dieser Wege versucht das Messenger-Unternehmen Slack zu gehen. Slack bietet derzeit nur Audio-Calls an, aber keine Video-Calls und setzt laut seinem „VP of Product“ ab sofort verstärkt auf „asynchrone Kommunikation“, auch um die Menschen aus beschriebener digitaler Erschöpfung zu holen. Denn, “niemand sei dazu gemacht worden, von “Nine to Five” in endlosen Video-Meetings zu verbringen.”

Mic Hirschbrich war im Mai 2017 zu Besuch beim damaligen VP von Slack | (c) Mic Hirschbrich

Zoom-Calls sind im Pandemie-Jahr um knapp 40 Prozent gestiegen und erwirtschafteten rund vier Milliarden Dollar. Slack, der Messenger der sich aufmachte, das Remote-Office für Teamspieler zu werden, wuchs zuletzt prozentuell ähnlich rasant und dürfte dieses Jahr über eine Milliarde Umsatz erzielen. Und die Gründe für diesen Erfolg dürften tatsächlich darin liegen, dass dessen Verantwortliche frühzeitig Schwächen identifizieren, die andere Remote-Technologien oder analoge Prozesse haben. Diese Leute wollen mit ihren Tools nämlich nie analoge Prozesse digitalisieren. Sie wollen stattdessen „die Arbeit an sich digital neu erfinden“!

Das ist auch gut und richtig so. Doch wir sind, bei all dem Erfolg der beschriebenen Player, noch lange nicht am Ziel! Der optimale Arbeitsplatz der Zukunft braucht noch viele Ideen, Tools und Anpassungen. Da haben noch viele Unicorns Platz, uns arbeitenden Menschen glücklicher zu machen in unserem täglichen Tun!

P.s. Wenn Sie übrigens selbst an der Fortsetzung der oben zitierten Studie zu „Zoom-Fatigue“ teilnehmen möchten, können Sie das hier tun:


Zum Autor

Mic Hirschbrich ist CEO des KI-Unternehmens Apollo.AI, beriet führende Politiker in digitalen Fragen und leitete den digitalen Think-Tank von Sebastian Kurz. Seine beruflichen Aufenthalte in Südostasien, Indien und den USA haben ihn nachhaltig geprägt und dazu gebracht, die eigene Sichtweise stets erweitern zu wollen. Im Jahr 2018 veröffentlichte Hirschbrich das Buch „Schöne Neue Welt 4.0 – Chancen und Risiken der Vierten Industriellen Revolution“, in dem er sich unter anderem mit den gesellschaftspolitischen Implikationen durch künstliche Intelligenz auseinandersetzt.

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13.03.2025

NXP-CTO Lars Reger über die aktuellen Trends in der Halbleiterindustrie

Interview. Softwaredefinierte Fahrzeuge und komplexe Assistenzsysteme machen Halbleiter zu einem Schlüsselfaktor der Automobilbranche – von der funktionalen Sicherheit bis zur Energieeffizienz. Im Gespräch mit NXP-CTO Lars Reger gehen wir der Frage nach, welche Chancen Europa im globalen Wettbewerb hat.
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Lars Reger, CTO von NXP © NXP

Die Halbleiter-Industrie ist zu einem unverzichtbaren Faktor für die Automobilbranche geworden: Immer komplexere elektronische Systeme und softwaredefinierte Fahrzeuge treiben die Nachfrage nach leistungsfähigen, sicheren und energieeffizienten Chips in die Höhe. NXP, als einer der weltweit führenden Hersteller von Halbleitern, spielt hier eine zentrale Rolle und stärkt sein Automotive-Portfolio stetig – etwa durch die Übernahme der Autosparte TTTech Auto von TTTech Anfang Jänner. Vor diesem Hintergrund äußert sich Lars Reger, CTO von NXP, zu den aktuellen Trends, Herausforderungen und Wachstumsaussichten in der globalen Halbleiter- und Automobilindustrie.


brutkasten: Welche Wachstumsraten erwarten Sie für softwaredefinierte Fahrzeuge?

Lars Reger: Der Markt für softwaredefinierte Fahrzeuge wächst in den nächsten Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten. Regionale Unterschiede sind groß, und auch die Autohersteller unterscheiden sich stark. Einige haben ein weißes Blatt Papier und können gleich komplett neue Architekturen aufsetzen. Andere, vor allem die etablierten europäischen und nordamerikanischen Hersteller, haben bestehende Modellreihen, die nach und nach umgestellt werden. Bei jeder neuen Modellgeneration oder Plattform wird nun diese Software-definierte Architektur eingeführt. Branchenschätzungen gehen davon aus, dass das Wachstum in diesem Bereich in den nächsten Jahren irgendwo zwischen 25 und 40 Prozent pro Jahr liegt. Das ist ein sehr, sehr schneller Umschwung.

In Europa gelten wir als besonders stark in den Bereichen Safety und Security. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Das liegt daran, dass das Thema Sicherheit in unseren alten Leitmärkten historisch eine große Rolle spielt. Nehmen wir die Security: Sie kommt aus der Bankkarten-Technologie. Es gibt eigentlich nur noch zwei große Hersteller von Kryptokarten, und das sind Infineon und NXP – beide europäisch. Darauf aufbauend entstanden Bezahlsoftware-Hersteller. Für E-Health, E-Government und E-Banking nutzte man ebenfalls diese Technologie. Mobile Payment wird zu großen Teilen in Europa entwickelt, denken Sie an das Bezahlen mit der Uhr oder dem Handy.

Bei der funktionalen Sicherheit sieht es ähnlich aus: Sie wurde im automobilen Bereich entwickelt. Eine elektronische Bremse, ein Airbag-System, Steer-by-Wire oder Fly-by-Wire – das sind alles europäische Entwicklungen. Der europäische Maschinenbau und die Automobilindustrie haben dafür gesorgt, dass funktionale Sicherheit hier sehr weit fortgeschritten ist. Zusammen mit den Krypto-Fähigkeiten haben wir eine spezielle Kombination an Know-how, die für diese neuen Systeme unverzichtbar ist. Genau das ist es, was jetzt gebraucht wird, um die Roboter-Architekturen richtig zu gestalten. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auch Energieeffizienz und Künstliche Intelligenz in der richtigen Größenordnung, damit sie auf solchen Systemen sinnvoll betrieben werden kann.

Wie schätzen Sie die zukünftige Position Europas in diesen Bereichen ein? Ist unser Alleinstellungsmerkmal gefährdet?

Niemand kann sich auf Lorbeeren ausruhen. Auch wir in Europa nicht. Die ganze Welt arbeitet mit Hochdruck daran, zu innovieren, und natürlich greifen andere unsere Wertschöpfungsmodelle an – das ist ganz normal. In der Vergangenheit hatten wir gewisse Markteintrittsbarrieren, weil es sehr schwierig war, etwa eine Abgasnachbehandlung zu kopieren. Bei Elektroautos fällt dieser Teil weg. Jetzt geht es allgemein um den Bau autonomer Systeme, in denen Europa zwar Vorreiter ist, aber nicht automatisch bleiben muss.

In den USA wurden in der Vergangenheit wiederholt Strafzölle angedroht und teilweise auch verhängt. Inwiefern hätte oder hat das Auswirkungen auf das Geschäft von NXP?

Die Halbleiterindustrie als Ganzes ist extrem global. Es gibt natürlich regionale Besonderheiten, beispielsweise viele Foundry-Fabriken in Taiwan oder den Equipmenthersteller ASML in den Niederlanden. Trotzdem ist die Branche insgesamt sehr global aufgestellt, und NXP braucht alle Märkte: Asien, die USA und Europa. Wir müssen unsere Produkte in großen Stückzahlen verkaufen. Denn nur wenn ich deutlich über 500 Millionen Stück eines Chips verkaufen kann, lohnt sich die Entwicklung.

Wenn ich den Markt fragmentiere, also mit Zöllen oder anderen Maßnahmen verkleinere, wird das zum Problem. Nehmen wir an, wir dürften unsere Produkte nur noch in Europa verkaufen. Dann würde uns zwei Drittel des Weltmarktes fehlen. Wenn wir immer 20 Prozent unserer Einnahmen in Forschung und Entwicklung stecken, sinken bei kleinerem Markt auch die Ressourcen für Innovationen. Wir könnten weniger investieren oder müssten die Kosten auf die Endkunden umlegen, was dann auch wieder die Preise hochtreibt.

Deshalb sind offene Märkte für uns enorm wichtig. Eine Fragmentierung durch Zölle oder andere Handelshemmnisse bremst die Innovation, weil wir nicht mehr in demselben Umfang wachsen können.

Wie sieht es aktuell mit den Lieferketten aus? Die Halbleiterkrise war lange ein Thema. Wie schätzen Sie die Entwicklung bei NXP ein?

NXP hat sehr viel getan, um widerstandsfähiger zu werden. Ein Faktor ist, dass die Kunden – oft Autohersteller oder andere Endgerätehersteller – mittlerweile sehr genau verstanden haben, wie die Halbleiter-Wertschöpfungskette aussieht. Man braucht etwa ein halbes Jahr von der Bestellung bis zum fertigen Chip und rund vier Jahre oder mehr, um ein neues Halbleiterwerk aufzubauen. Da kann man nicht einfach kurzfristig reagieren, wenn irgendwo plötzlich mehr Nachfrage entsteht.

Wir haben deshalb ein sogenanntes Dual-Sourcing eingeführt. Wir bauen in Dresden und in Singapur und arbeiten weltweit mit Foundries zusammen. So haben wir immer eine zweite Option in unterschiedlichen geografischen Regionen, falls es irgendwo zu einer Naturkatastrophe, einem Konflikt oder geopolitischen Spannungen kommt. Das reißt nicht sofort die ganze Kette ab.

Darüber hinaus versuchen wir, möglichst früh Bescheid zu wissen, wenn sich eine Architektur ändert. Wenn ein modernes Auto das Zehnfache an Chips braucht wie sein Vorgänger, dann muss man das rechtzeitig einplanen, damit die Kapazitäten da sind. Genau das ist bei der letzten Krise passiert: Die Anzahl der Autos blieb ungefähr gleich, aber der Halbleiterbedarf pro Auto stieg stark an – teilweise um den Faktor 10 bei bestimmten Komponenten. Viele haben das unterschätzt, weil sie dachten: „Die Stückzahlen sind ja nicht gestiegen.“ Aber die Architektur ist eben deutlich komplexer geworden.

War das also ein Fehler im Forecasting, und hat man daraus gelernt?

Ich glaube, es haben alle in der Lieferkette verstanden, dass man sich jetzt zeitnah abstimmen muss. Wenn eine neue Produktgeneration wesentlich mehr Halbleiterbedarf hat, muss das kommuniziert werden, damit wir rechtzeitig die Produktion planen können.

Sehen Sie noch weitere Faktoren, die Lieferketten limitieren könnten?

Ja, die gibt es durchaus. Im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld sind manche Unternehmen unter Druck und versuchen, ihre Lagerbestände niedrig zu halten, um möglichst wenig Kapital zu binden. Das ist verständlich. Aber sie wissen auch, dass wir lange Reaktionszeiten haben. Wenn die Nachfrage plötzlich wieder anzieht und wir das zu spät mitbekommen, kommen wir in eine ähnliche Situation wie Ende 2020, in der es wieder zu Engpässen kommt. Genau das ist unsere Paranoia im System: Wir beobachten sehr genau, wann dieser Umschaltmoment eintritt, damit wir nicht wieder in Lieferallokationen geraten.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Welche Trends sehen Sie bis 2025 im Halbleitermarkt?

Mit einem Wort: Robotik. Und zwar nicht unbedingt in Form eines R2-D2 oder C-3PO, sondern als „Intelligent Systems at the Edge“, wie wir sagen. Die Welt entwickelt sich zunehmend in Richtung Antizipation und Automation. Sie kommen nach Hause und müssen praktisch nichts mehr tun, weil Ihr Haus schon weiß, wie es zu klimatisieren ist. Der Kühlschrank checkt, was fehlt, die Haustür öffnet sich, wenn Ihr Handy in der Nähe ist. Wir bewegen uns in eine Welt, in der viele Aufgaben und Verantwortlichkeiten durch vernetzte, smarte Systeme übernommen werden.

Damit dies gelingt, benötigen wir diese Assistenzsysteme überall. Früher begann das vielleicht mit smarten Lautsprechern, heute übernehmen solche Systeme wichtige Tasks. Das ist grundsätzlich positiv, etwa wenn man an die elektronische Patientenakte denkt, die sicherer ist als ein Papierausdruck, der irgendwo herumliegt.


13.03.2025

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Die Halbleiter-Industrie ist zu einem unverzichtbaren Faktor für die Automobilbranche geworden: Immer komplexere elektronische Systeme und softwaredefinierte Fahrzeuge treiben die Nachfrage nach leistungsfähigen, sicheren und energieeffizienten Chips in die Höhe. NXP, als einer der weltweit führenden Hersteller von Halbleitern, spielt hier eine zentrale Rolle und stärkt sein Automotive-Portfolio stetig – etwa durch die Übernahme der Autosparte TTTech Auto von TTTech Anfang Jänner. Vor diesem Hintergrund äußert sich Lars Reger, CTO von NXP, zu den aktuellen Trends, Herausforderungen und Wachstumsaussichten in der globalen Halbleiter- und Automobilindustrie.


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Lars Reger: Der Markt für softwaredefinierte Fahrzeuge wächst in den nächsten Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten. Regionale Unterschiede sind groß, und auch die Autohersteller unterscheiden sich stark. Einige haben ein weißes Blatt Papier und können gleich komplett neue Architekturen aufsetzen. Andere, vor allem die etablierten europäischen und nordamerikanischen Hersteller, haben bestehende Modellreihen, die nach und nach umgestellt werden. Bei jeder neuen Modellgeneration oder Plattform wird nun diese Software-definierte Architektur eingeführt. Branchenschätzungen gehen davon aus, dass das Wachstum in diesem Bereich in den nächsten Jahren irgendwo zwischen 25 und 40 Prozent pro Jahr liegt. Das ist ein sehr, sehr schneller Umschwung.

In Europa gelten wir als besonders stark in den Bereichen Safety und Security. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Das liegt daran, dass das Thema Sicherheit in unseren alten Leitmärkten historisch eine große Rolle spielt. Nehmen wir die Security: Sie kommt aus der Bankkarten-Technologie. Es gibt eigentlich nur noch zwei große Hersteller von Kryptokarten, und das sind Infineon und NXP – beide europäisch. Darauf aufbauend entstanden Bezahlsoftware-Hersteller. Für E-Health, E-Government und E-Banking nutzte man ebenfalls diese Technologie. Mobile Payment wird zu großen Teilen in Europa entwickelt, denken Sie an das Bezahlen mit der Uhr oder dem Handy.

Bei der funktionalen Sicherheit sieht es ähnlich aus: Sie wurde im automobilen Bereich entwickelt. Eine elektronische Bremse, ein Airbag-System, Steer-by-Wire oder Fly-by-Wire – das sind alles europäische Entwicklungen. Der europäische Maschinenbau und die Automobilindustrie haben dafür gesorgt, dass funktionale Sicherheit hier sehr weit fortgeschritten ist. Zusammen mit den Krypto-Fähigkeiten haben wir eine spezielle Kombination an Know-how, die für diese neuen Systeme unverzichtbar ist. Genau das ist es, was jetzt gebraucht wird, um die Roboter-Architekturen richtig zu gestalten. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auch Energieeffizienz und Künstliche Intelligenz in der richtigen Größenordnung, damit sie auf solchen Systemen sinnvoll betrieben werden kann.

Wie schätzen Sie die zukünftige Position Europas in diesen Bereichen ein? Ist unser Alleinstellungsmerkmal gefährdet?

Niemand kann sich auf Lorbeeren ausruhen. Auch wir in Europa nicht. Die ganze Welt arbeitet mit Hochdruck daran, zu innovieren, und natürlich greifen andere unsere Wertschöpfungsmodelle an – das ist ganz normal. In der Vergangenheit hatten wir gewisse Markteintrittsbarrieren, weil es sehr schwierig war, etwa eine Abgasnachbehandlung zu kopieren. Bei Elektroautos fällt dieser Teil weg. Jetzt geht es allgemein um den Bau autonomer Systeme, in denen Europa zwar Vorreiter ist, aber nicht automatisch bleiben muss.

In den USA wurden in der Vergangenheit wiederholt Strafzölle angedroht und teilweise auch verhängt. Inwiefern hätte oder hat das Auswirkungen auf das Geschäft von NXP?

Die Halbleiterindustrie als Ganzes ist extrem global. Es gibt natürlich regionale Besonderheiten, beispielsweise viele Foundry-Fabriken in Taiwan oder den Equipmenthersteller ASML in den Niederlanden. Trotzdem ist die Branche insgesamt sehr global aufgestellt, und NXP braucht alle Märkte: Asien, die USA und Europa. Wir müssen unsere Produkte in großen Stückzahlen verkaufen. Denn nur wenn ich deutlich über 500 Millionen Stück eines Chips verkaufen kann, lohnt sich die Entwicklung.

Wenn ich den Markt fragmentiere, also mit Zöllen oder anderen Maßnahmen verkleinere, wird das zum Problem. Nehmen wir an, wir dürften unsere Produkte nur noch in Europa verkaufen. Dann würde uns zwei Drittel des Weltmarktes fehlen. Wenn wir immer 20 Prozent unserer Einnahmen in Forschung und Entwicklung stecken, sinken bei kleinerem Markt auch die Ressourcen für Innovationen. Wir könnten weniger investieren oder müssten die Kosten auf die Endkunden umlegen, was dann auch wieder die Preise hochtreibt.

Deshalb sind offene Märkte für uns enorm wichtig. Eine Fragmentierung durch Zölle oder andere Handelshemmnisse bremst die Innovation, weil wir nicht mehr in demselben Umfang wachsen können.

Wie sieht es aktuell mit den Lieferketten aus? Die Halbleiterkrise war lange ein Thema. Wie schätzen Sie die Entwicklung bei NXP ein?

NXP hat sehr viel getan, um widerstandsfähiger zu werden. Ein Faktor ist, dass die Kunden – oft Autohersteller oder andere Endgerätehersteller – mittlerweile sehr genau verstanden haben, wie die Halbleiter-Wertschöpfungskette aussieht. Man braucht etwa ein halbes Jahr von der Bestellung bis zum fertigen Chip und rund vier Jahre oder mehr, um ein neues Halbleiterwerk aufzubauen. Da kann man nicht einfach kurzfristig reagieren, wenn irgendwo plötzlich mehr Nachfrage entsteht.

Wir haben deshalb ein sogenanntes Dual-Sourcing eingeführt. Wir bauen in Dresden und in Singapur und arbeiten weltweit mit Foundries zusammen. So haben wir immer eine zweite Option in unterschiedlichen geografischen Regionen, falls es irgendwo zu einer Naturkatastrophe, einem Konflikt oder geopolitischen Spannungen kommt. Das reißt nicht sofort die ganze Kette ab.

Darüber hinaus versuchen wir, möglichst früh Bescheid zu wissen, wenn sich eine Architektur ändert. Wenn ein modernes Auto das Zehnfache an Chips braucht wie sein Vorgänger, dann muss man das rechtzeitig einplanen, damit die Kapazitäten da sind. Genau das ist bei der letzten Krise passiert: Die Anzahl der Autos blieb ungefähr gleich, aber der Halbleiterbedarf pro Auto stieg stark an – teilweise um den Faktor 10 bei bestimmten Komponenten. Viele haben das unterschätzt, weil sie dachten: „Die Stückzahlen sind ja nicht gestiegen.“ Aber die Architektur ist eben deutlich komplexer geworden.

War das also ein Fehler im Forecasting, und hat man daraus gelernt?

Ich glaube, es haben alle in der Lieferkette verstanden, dass man sich jetzt zeitnah abstimmen muss. Wenn eine neue Produktgeneration wesentlich mehr Halbleiterbedarf hat, muss das kommuniziert werden, damit wir rechtzeitig die Produktion planen können.

Sehen Sie noch weitere Faktoren, die Lieferketten limitieren könnten?

Ja, die gibt es durchaus. Im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld sind manche Unternehmen unter Druck und versuchen, ihre Lagerbestände niedrig zu halten, um möglichst wenig Kapital zu binden. Das ist verständlich. Aber sie wissen auch, dass wir lange Reaktionszeiten haben. Wenn die Nachfrage plötzlich wieder anzieht und wir das zu spät mitbekommen, kommen wir in eine ähnliche Situation wie Ende 2020, in der es wieder zu Engpässen kommt. Genau das ist unsere Paranoia im System: Wir beobachten sehr genau, wann dieser Umschaltmoment eintritt, damit wir nicht wieder in Lieferallokationen geraten.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Welche Trends sehen Sie bis 2025 im Halbleitermarkt?

Mit einem Wort: Robotik. Und zwar nicht unbedingt in Form eines R2-D2 oder C-3PO, sondern als „Intelligent Systems at the Edge“, wie wir sagen. Die Welt entwickelt sich zunehmend in Richtung Antizipation und Automation. Sie kommen nach Hause und müssen praktisch nichts mehr tun, weil Ihr Haus schon weiß, wie es zu klimatisieren ist. Der Kühlschrank checkt, was fehlt, die Haustür öffnet sich, wenn Ihr Handy in der Nähe ist. Wir bewegen uns in eine Welt, in der viele Aufgaben und Verantwortlichkeiten durch vernetzte, smarte Systeme übernommen werden.

Damit dies gelingt, benötigen wir diese Assistenzsysteme überall. Früher begann das vielleicht mit smarten Lautsprechern, heute übernehmen solche Systeme wichtige Tasks. Das ist grundsätzlich positiv, etwa wenn man an die elektronische Patientenakte denkt, die sicherer ist als ein Papierausdruck, der irgendwo herumliegt.


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