31.03.2023

Crypto Weekly #96:  Auch noch Binance – was hinter dem US-Krypto-Crackdown steckt

Diese Woche: Die US-Behörden gehen weiter gegen große Namen der Kryptobranche vor. Nach Coinbase in der Vorwoche hat es nun Binance getroffen. Wir beleuchten die Hintergründe.
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Binance ist die nach Handelsvolumen größte Kryptobörse der Welt.
Binance ist die nach Handelsvolumen größte Kryptobörse der Welt. | Foto: prima91/Adobe Stock
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Die Kurstafel:

📉 Kursverluste nach zwei starken Wochen - aber XRP steigt

Nach zwei starken Wochen ist es in den vergangenen sieben Tagen mit den Kursen wieder nach unten gegangen. Große Ausnahme unter den großen Coins: XRP mit einem satten Plus von 19 Prozent. Hier setzte sich die Aufwärtsbewegung der Vorwoche fort. Hintergrund: Spekulationen um den Ausgang des Rechtsstreits zwischen dem XRP-Unternehmen Ripple und der US-Börsenaufsicht Security and Exchange Commission (SEC). 

Dieser wird bereits seit Ende 2020 vor Gericht ausgetragen.  Und er zieht sich weiter dahin. Seitdem haben immer wieder Indizen in die eine oder andere Richtung den XRP-Kurs bewegt: Etwa, wenn der Richter bestimmte Dokumente zum Verfahren zugelassen hat oder nicht. Oder auch einfach Aussagen des Richters im Prozess. 

Und zuletzt kamen jetzt wieder Gerüchte auf, wonach der Prozess erstens bald und zweitens zugunsten von Ripple ausgehen könnte. Belastbar sind diese Informationen aber nicht. Dennoch spekulieren gerne einige darauf, dass sie sich als korrekt herausstellen werden - und treiben so auch den Kurs an.

Seit dem FTX-Kollaps im vergangenen November haben die US-Behörden ihr Vorgehen gegen die Krypto-Branche deutlich intensiviert. Vor diesem Hintergrund kommt der Entscheidung im Ripple-Fall durchaus eine besondere Bedeutung zu. Speziell wenn die SEC vor Gericht verlieren sollte. Denn dann stellt sich sofort die Frage, wie sich das Urteil auf das weitere Agieren der Behörde auswirken würde. 

Dennoch sollte man aber eines nicht vergessen: Würde Ripple den Fall gewinnen (was völlig offen ist!), hieße das nicht, dass der Rechtsstreit beendet ist. Die Behörde kann ja in Berufung gehen. Der Streit würde sich dann weiter dahinziehen. Auch ein baldiges Urteil würde also nicht unbedingt Klarheit bringen. 

😨 Der Krypto-Crackdown der US-Behörden geht weiter

Aber damit sind wir jedenfalls schon beim zentralen Thema der Woche angekommen. Es ist dasselbe wie in der Vorwoche: Das Vorgehen der US-Behörden gegen Akteure der Krypto-Branche. In der vorigen Ausgabe war Coinbase das große Thema. Die Kryptobörse hatte von der SEC eine sogenannte Wells Notice erhalten - also eine Art Vorwarnung, dass rechtliche Schritte drohen. Die Details kennt man noch nicht.

Aber die Nachricht hatte sich gut eingefügt in die Ereignisse der Wochen zuvor. Hervorzuheben ist dabei vor allem der Vergleich, den die Börsenaufsicht mit dem Coinbase-Konkurrenten Kraken geschlossen hatte: In diesem verpflichtete sich die Börse nicht nur zu einer Strafzahlung von 30 Mio. Dollar. Sondern auch zur Einstellung seines Staking-Angebots am US-Markt.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Die US-Behörden schrecken definitiv nicht davor zurück, sich auch mit den ganz großen Namen der Branche anzulegen. Genau das bestätigte sich diese Woche erneut. Diesmal betroffen: Binance, die nach Handelsvolumen größte Kryptobörse der Welt. Diese sieht sich nun in den USA mit einer Behördenklage konfrontiert.

Interessanterweise ist es aber nicht die SEC, die klagt. Sondern die Commodity Futures Trading Commission (CFTC). Diese reguliert Derivate - also etwas vereinfacht gesagt: Finanzprodukte, die den Preis anderer Assets nachbilden. Ein Derivat auf den Ölpreis ermöglicht beispielsweise den Handel mit Öl - ohne dass man tatsächlich Öl in irgendwelchen Fässern kaufen müsste und man am Ende womöglich auch noch verschmierte Finger bekäme.

Derivate spielen auch im Krypto-Bereich eine Rolle: Insbesondere für institutionelle Anleger, also beispielsweise Fonds oder Vermögensverwalter. Diese können oder wollen oftmals nicht direkt in die eigentlichen Krypto-Assets investieren. Etwa, weil sie Vorgaben haben, die ihnen das verbieten - oder auch, weil sie sich dann selbst um die Verwahrung der Coins kümmern müssen. 

Wenn sie in ein Finanzprodukt investieren, das beispielsweise den Bitcoin-Preis nachbildet, profitieren sie ebenfalls von möglichen Preisanstiegen - müssen sich aber nicht um die Verwahrung kümmern. “Not your keys, not your coins” werden da natürlich viele aufschreien - aber für den typischen institutionellen Anleger spielt dieser Aspekt keine Rolle. Deren hauptsächliches Interesse könnte man eher mit einer anderen in Krypto-Szene immer wieder zitierten Phrase beschreiben - und zwar: “Number goes up”.

Dann gibt es bei Derivaten aber noch einen anderen Aspekt: Sie ermöglichen auch das Trading mit sogenannten Hebeln. Das heißt: Mit einem - beispielsweise - zehnfachen Hebel kann man mit einem Einsatz von 1.000 Dollar tatsächlich einen Betrag von 10.000 Dollar bewegen. Etwas vereinfacht gesagt: Spekuliert man richtig, kann man den Gewinn einsacken, als hätte man 10.000 Dollar investiert - mit einem Kapital von 1.000 Dollar. Natürlich kann das aber genauso in die andere Richtung gehen - und man schuldet dem Broker dann Beträge, die den Einsatz weit übersteigen. Das ist gerade für unerfahrene Anleger:innen ziemlich gefährlich. 

🧐 Was die US-Derivatenaufsicht Binance vorwirft

Genau das ist wohl auch der Grund, warum Derivate in den USA sehr streng reguliert sind. Und hier sind wir schon beim entscheidenden Punkt. Die CFTC wirft Binance im Wesentlichen vor, US-Kund:innen verbotenerweise den Handel mit Krypto-Derivaten ermöglicht zu haben. 

Dazu muss man wissen: Eben aus dem Grund, dass die regulatorischen Vorschriften für Privatanleger:innen in den USA deutlich strenger sind als anderswo, ist die eigentliche Handelsplattform von Binance in den USA nicht verfügbar. Stattdessen gibt es einen Ableger namens Binance.US mit einem deutlich eingeschränkten Produktangebot. So hatte es übrigens auch die Pleitebörse FTX gehandhabt, aber dies nur am Rande. 

Die CFTC setzt jedenfalls genau an diesem Punkt an: Der Vorwurf lautet, dass Binance US-Kund:innen Zugang zu unerlaubten Finanzprodukten ermöglicht hat. Die Struktur mit dem abgetrennten US-Geschäft war demnach somit bis zu einem gewissen Grad nur zum Schein. Konkret lautet einer der Vorwürfe in der Klage beispielsweise, dass Binance Kund:innen aktiv dabei geholfen habe, mittels VPN ihre Herkunft aus den USA zu verschleiern - und somit Zugriff auf das internationale Angebot zu bekommen. Die Klage stützt sich dabei auf zahlreiche interne Nachrichten von Binance. Die Kryptobörse bestreitet die Vorwürfe.

🇺🇸 SEC vs. CFTC: Der Krypto-Disput der beiden US-Behörden

Aber unabhängig von der Frage, welche Substanz die Vorwürfe haben: Die Angelegenheit ist auch noch aus einer anderen Perspektive interessant. Weil die Klage eben nicht von der Börsenaufsicht SEC kommt, sondern von der Derivatenaufsicht CFTC. Diese gilt gemeinhin als krypto-freundlicher. Und ganz so eindeutig, wer wofür zuständig ist, ist die Sache mangels einer klaren gesetzlichen Krypto-Regulierung in den USA nicht.

Die SEC ist für Wertpapiere zuständig, so viel ist klar. Und zumindest der aktuelle Chef der Behörde, Gary Gensler, dürfte der Meinung sein, dass sämtliche Krypto-Assets außer Bitcoin gemäß US-Recht in Wahrheit als Wertpapiere einzustufen seien. Das wiederum ist eine Einschätzung, die für die Krypto-Branche ziemlich unangenehm ist. 

Die CFTC wiederum sieht das ein bisschen anders. Was sich auch in der Binance-Klage zeigt: Denn dort heißt in einer Passage explizit, Binance handle mit “digitalen Assets, die Commodities sind, darunter Bitcoin (BTC), Ether (ETH) und Litecoin (LTC)”. Anders formuliert: Für die CFTC sind die drei erwähnten und noch weitere, nicht explizit genannte Kryptowährungen nach US-Recht jedenfalls nicht als Wertpapiere einzustufen.

Und das bedeutet auch: Dieser Einschätzung zufolge wäre die CFTC für Bitcoin, Ethereum und möglicherweise noch eine ganze Reihe anderer großer Kryptowährungen zuständig. Das ist das bevorzugte Szenario der Krypto-Branche, aber natürlich auch das jenes der CFTC selbst. Denn klar ist auch: Wenn sich Krypto als Assetklasse etablieren und in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen sollte, wäre das auch ein Machtzuwachs für jene Behörde, die Krypto reguliert. Und deshalb will die CFTC die wichtigsten Krypto-Assets auch selbst regulieren. 

Die SEC dagegen sieht - zumindest unter ihrer jetzigen Führung - in der Kryptobranche vor allem Betrügereien und Abzocke. Sie will daher, dass Krypto-Projekte einen Registrierungsprozess durchlaufen, wie er eben im US-Wertpapierrecht vorgesehen ist. 

Welche Behörde sich durchsetzen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt offen. Gesetzlich ist es, wie erwähnt, nicht explizit geregelt. Im Kongress gab es zwar immer wieder Initiativen für ein umfassendes rechtliches Rahmenwerk zur Krypto-Regulierung. Ein Beschluss eines konkreten Gesetzesvorschlags ist aber derzeit in weiter Ferne.


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Ida Tin, Co-Founderin von Clue (c) Valerie Maltsev

Dieser Artikel erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe unseres Printmagazins. Ein Link zum Download findet sich am Ende des Artikels.

Bunte Hosenanzüge, gepaart mit hohen Absätzen, Sneakers, langen Locken und eleganten Kurzhaarschnitten – beim diesjährigen Global Leaders Summit, organisiert von the female factor und unterstützt von der Stadt Wien, gleicht das Publikum einem bunten Bällebad. An diesem ungewöhnlich warmen September­donnerstag füllt sich das Wiener Rathaus mit über 500 weiblichen Führungskräften aus 50 Nationen.

Is this how a leader looks like?

Mittendrin ragt die dänische Founderin Ida Tin aus der Menge. In einem grau-weiß gestreiften Blazer und mit elegantem Hair-Updo setzt sie kontrollierte Schritte auf den roten Teppich, der Besucher:innen den Weg ins Rathaus markiert. Links und rechts stehen weiß bezogene Stehtische, vor einer türkisen Fotowall tummeln sich Hosenanzüge. „This is how a leader looks like“ steht auf der Fotowand.

„Schriftstellerin“ ist die Berufsbezeichnung, die aus diverser Berichterstattung rund um die dänische Gründerin hervorgeht. In ihrem ersten Buch schrieb sie über Motorradreisen. In Dänemark wurde es zum Bestseller. Ihre Geschichte ist eine, die von vielen gehört und gelesen gehört – denn Ida heißt heute „Mother of Femtech“.

Mother of Femtech

Ida wurde im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro geboren und war einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Motorrad unterwegs. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder hat sie so mehrere Länder der Welt bereist.

Zusammen mit ihrem Vater ­arbeitete sie später für Moto Mundo, einen ­ Motorrad-Reiseveranstalter. In den frühen 2000ern organisierte sie Motor­radtouren durch Vietnam, die USA, Kuba, Chile oder die Mongolei; 2009 erschien ihr besagtes Buch „Direktøs“, in dem sie von ihren Reiseerfahrungen erzählt.

Weil auf Reisen kein Tag ist wie der andere, stand Ida vor einem Problem: Woher weiß sie, wann ihre Monats­blutung kommt? Händisch mitzuschreiben ging nicht, am Motorrad war kaum Platz. Sie brauchte etwas Handliches; etwas, das immer dabei ist. Und etwas, das selbst mitdenkt.

Ida kam auf eine Idee – ­ wenige Jahre später startete sie eine der weltweit ersten Tracking-Apps für Frauengesundheit. Ida gründete Clue als App für menstruierende Personen im Jahr 2012 in Berlin, gemeinsam mit Hans Raffauf, Moritz von Buttlar und Mike LaVigne. Über die Jahre wurde Clue zu einer der berühmtesten Apps unter Menstruierenden. Damit schuf Ida eine technologische Lösung zur Verbesserung von Frauengesundheit – eine Femtech-Lösung.

Forgive me, but I think there is a little bit of a lack of vision for Europe.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Zurück am Global Leaders Summit höre ich Ida zu, wie sie auf der Global Stage des Großen Festsaals im Wiener Rathaus spricht. Ida setzt ihre Worte gezielt; im Trubel des Summits sticht sie nicht mit Lautstärke hervor, sondern mit Präsenz. Ohne ihre Stimme zu heben, finden Idas Worte ihren Weg durch die Geräuschkulisse des Festsaaltreibens. Sie spricht von einer Reform unseres Ökosystems.

„Let’s invite men into our world“ und „Sense your body, pay tribute to your mental health“ sind nur zwei der Aussagen, die man selten von Gründer:innen im Business-Kontext hört. Mit dem Aufbau ihres Unternehmens hat sie den Begriffen „Gründung“ und „Unternehmensführung“ eine neue Bedeutung verliehen. Sie hat sie menschlicher gemacht.

Nach dem Panel bleibt Zeit für ein kurzes Interview. Wieder schafft es Ida, mit bewusst gesetzten Wortkombinationen eine wichtige Message zu kommunizieren: „Wir müssen aufpassen, was wir als erfolgreich betrachten. Früher war Erfolg Geld, ein hoher Return on Investment; noch größere Finanzierungsrunden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der eigent­liche Reichtum unsere Gesundheit.“

Wie ein System funktioniert

Unverkennbar geht es in unserem Gespräch nicht nur um Geld: „Mehrere Studien zeigen, dass Investitionen in die Gesundheit von Frauen die Wirtschaft ankurbeln. Erst dieses Jahr hat McKin- sey einen Report herausgebracht, der zeigt: Wir würden uns jedes Jahr eine Billion Dollar sparen, wenn die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen an- gemessen erfüllt würden.“

Ida zeigt in unserem Interview, dass sie das Thema bewegt: „Frauengesundheit ist teuer, gar keine Frage. Aber wir wissen mittlerweile auch: Wenn es Frauen gut geht, geht es ihren Unternehmen gut, ihren Familien und schließlich auch der Gesellschaft. Viel­fältige Teams begünstigen integrative Unternehmen, bringen weniger Voreingenommenheit und tatsächlich bessere Geschäftsergebnisse.“

Als ob das nicht schon selbsterklärend genug wäre, betont Ida mit einem Kopfnicken: „Wenn wir also Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.“

“Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und engstirnig.”

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Gesundheit!

Dass das in der Corporate-Bubble schwierig umzusetzen ist, weiß Ida. Auch alle bunten Hosenanzüge, die sich zum Global Leaders Summit im Wiener Rathaus versammelt haben, wissen es. Dass nicht tatenlos zugesehen werden darf, wie Frauen, ihre Gesundheit und ihr Potenzial im Unternehmertum vernachlässigt werden, weiß auch jede vor Ort.

„Wir wissen doch alle, dass man mehr Perspektiven in Führungsebenen bringt, wenn man Frauen dort reinsetzt. Wenn man sie einfach machen lässt und niemanden zu formen versucht. Wir leben in einer Kultur, vor allem in der Tech-Szene, in der wir Menschen formen. Du stellst jemanden an, du formst dir deine Arbeitskraft so, wie du sie willst, drückst sie in interne Strukturen. Du etablierst Arbeitsmodelle, die sich nach 40 Wochenstunden richten und Menschen gesundheitlich belasten. Und nicht selten endet das im Burnout. Ich denke, wir müssen uns in dieser Hinsicht mehr am Gesundheitsaspekt unserer Arbeit orientieren. Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“, so Ida.

Wenn wir Frauen in den Aufbau der Welt miteinbeziehen, funktioniert das System.

Ida Tin, Co-Founderin von Clue

Langsam lasse ich mir Idas Worte durch den Kopf gehen. „Wenn wir uns kaputtarbeiten, was bleibt dann vom Leben übrig?“ Ja, der Satz kommt wahrlich aus dem Mund einer der erfolgreichsten Founder:innen unserer Zeit. Das ist das Mindset jener Unternehmerin, die mit ihrer Tracking-App den Begriff Femtech prägte und den Grundstein für eine ganze Branche schuf. Sogar Apple war von Idas Technologie begeistert und bat um Zusammenarbeit.

Idas Mindset kommt nicht von irgendwo: „Meine Eltern waren ein Beispiel für Menschen, die genau das taten, was sie wirklich gerne machten; auch, wenn das in den Augen mancher als verrückter kleiner Traum schien. Mit ihrem Traum haben sie sich immerhin ihren Lebensunterhalt verdient. Und ich denke, wenn einem als Kind die Chance gegeben wird, die Welt zu sehen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele Realitäten es da draußen gibt; und wie viele Dinge miteinander verknüpft sind.“

Der Mangel an Vision

Stichwort Verknüpfung: Sollten wir nicht zuerst anfangen, auf nationaler Ebene zu denken, bevor wir uns die ganze Welt vorknöpfen? Ida sieht das anders:

„Wie soll ein kleines, noch so starkes Land in einem schwachen Europa überleben? Wenn es zu politischen Unruhen auf europäischer Ebene kommt, sind wir alle verwundbar. Wenn die Wirtschaft in Europa zusammenbricht, werden auch einzelne Staaten zusammenbrechen. Es macht keinen Sinn, in nationalen Einheiten zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in Zukunft versorgen können. Wir müssen ein bisschen mehr an unseren Planeten denken. Ich glaube, es mangelt an einer Vision für Europa; und an gutem Storytelling.“

Der neue Erfolg

Ida redet Klartext über Tatsachen, die eigentlich jeder kennt, aber niemand wirklich wahr­ haben möchte. Mit einem weiteren Kopfnicken teilt sie Lösungsansätze:

„Wenn wir unsere Wirtschaft in etwas Nachhaltiges verwandeln wollen, müssen wir Erfolg neu definieren. Zurzeit feiern wir Investments, wir feiern finanzielle Rendite. Wir feiern Unicorns. Aber die Welt verlangt nach einer mehrdimensionalen Vorstellung von Erfolg.“

Ida meint: sich selbst nach eigenen Maßstäben als erfolgreich zu bezeichnen; Gesundheit als Erfolg zu bezeichnen. Und: „Unternehmen aufzubauen, in denen Menschen gesund sein können, in denen Menschen offen queer sein können, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen; in denen man sie nicht zwingt, Alkohol zu trinken – und in denen eine integrative Kultur geschaffen wird.“

Wir brauchen weniger

Mit Clue hat Ida genau das versucht, und zwar mit einem der wohl umstrittensten New-Work-Themen unserer Zeit: der Vier-Tage-Woche. „Wir haben gesehen, dass unsere Leute an vier Tagen in der Woche genauso viel geleistet haben wie an fünf.“

Ida bot ihrem Team neben vier Arbeitstagen damit auch drei freie Tage, die Möglichkeit für Side Projects und mehr Zeit für Sport, Familie und Ruhe. „Viele hatten das Gefühl, dass ihr Leben eine ganz neue Qualität gewonnen hat. Und zusätzlich gibt es auch eine Menge an Studien und Daten, die zeigen, dass das funktioniert“, so Ida.

Wie in Island

So wie in Island, wo seit 2020 51 Prozent der Arbeitnehmenden reduzierte Wochenarbeitszeiten von 35 bis 36 Stunden bei gleichem Lohn wie zuvor hatten. Heute soll der Anteil noch etwas höher liegen, heißt es von einer Studie des britischen Autonomy Institute und der isländischen Association for Sustainability and Democracy (Alda). Im vergangenen Jahr soll die Wirtschaft Islands um fünf Prozent gewachsen sein – damit verzeichnet der Staat eine der höchsten Wachstumsraten in Europa.

In Idas Office gab es an den vier Arbeitstagen außerdem schuhfreie Zonen, einen Meetingraum ohne Tisch sowie Schwimm- und Fitnessstunden für ihre Mitarbeiter:innen. „Es sind die kleinen Dinge, die die Leute zusammen und zum Lachen bringen. Irgendwann hatten wir sogar eine Vorstandssitzung im tischlosen Raum.“

Kannst du acht Stunden am Tag sitzen?“ Ida reißt mich aus meinem kurzen Tagtraum. „Ich kann es nicht!“, wirft sie hinterher. „Auch jeder Sportler weiß, dass man Erholung braucht, um Höchstleistung zu erbringen. Warum sollte man das als arbeitender Mensch also vernachlässigen?“

Die Planeten-Perspektive

Nach fast 40 Minuten werden wir von zwei bunten Hosenanzügen unterbrochen. Die Zeit für das Interview ist um, das nächste steht an. Eine Frage fehlt uns aber immer noch: Wie lässt sich unsere Gesellschaft nun nachhaltig umbauen?

„Die Besessenheit mit Geld macht unser Leben sehr arm. Und sie macht uns engstirnig. Niemand auf diesem Planeten muss exorbitant viel besitzen. Alles über einem bestimmten Betrag könnte in Klimafonds fließen, in Sozialprojekte, in die gerechte Verteilung von Vermögen. Die Monopolisierung von Reichtum schafft ein großes demokratisches Problem; und schließlich auch ein Problem für Innovation.“

Was uns Ida sagen will: Man kann keine Gesellschaft aufrechterhalten, in der zu wenige zu viel und zu viele zu wenig haben. „Ich wünsche mir, dass wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Manchmal frage ich mich: Warum haben wir nicht eine gemeinsame Marke für unseren Planeten? Einen gemeinsamen Plan mit einer gemeinsamen Perspektive. Das wäre etwas, das uns in unserem Tun sicherlich einiges an Klarheit und Ambition geben würde.“

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