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Irgendwie ist es recht “chillig” in unseren Städten geworden, um einen neu-deutschen Begriff zu verwenden. Alles scheint sich ruhig und überschaubar zu entwickeln. Wenn öffentlich mal etwas Außergewöhnliches passiert, dann baut man einen großen Flughafen in Berlin, einen neuen Bahnhof mit Shopping-Mall oder ein Krankenhaus in Wien. Kulturell leistet man sich vielleicht noch eine Elbphilharmonie in Hamburg, immerhin ein international angesehenes Architektur-Meisterwerk! Aber es ist eben alles sehr “chillig” geworden. Die Dinge dauern 10-20 Jahre, verzögern sich wie das Amen im Gebet, haben Finanzierungsprobleme und ihre Skandale, sind dann toll geworden oder auch weniger prickelnd. Aber die Jahre, in denen gefühlt nichts wirklich Spannendes neu eröffnet wird, sind die Regel, nicht die Ausnahme. Man lebt in unseren Städten viel von der Tradition, legt großen Wert auf Lebensqualität und nichts daran ist falsch. Ganz im Gegenteil. Doch es lohnt dennoch, sich einmal eine weit entfernte Region anzusehen und was dort so abgeht. Die wenigsten von uns werden den Namen schon einmal gehört haben: Die Rede ist von Chongqing. Und dort ist es entwicklungstechnisch alles, nur nicht “chillig”.
Chongqing: Das österreichische New York Chinas
Wird die Stadt der Superlativen beschrieben, fallen öfters die Namen “Österreich” und “New York”. Wie das Video der Europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) bestätigt, hat die Stadt in etwa die geographische Größe Österreichs (also etwa 80.000 km2).
Gelegen im Südwesten Chinas, erinnert sie bei näherer Betrachtung zudem an New York, weil ein Gebiet dem Stadtteil Manhattan doch recht ähnelt. Das alles wäre jetzt noch nicht so spektakulär, gäbe es nicht folgende Kennzahlen, die den außergewöhnlichen Werdegang dieser Metropole beschreiben.
- Erbaut wurde die Stadt am Zusammenfluss von Jangtsekiang und Jialing mithilfe des gewaltigen 3-Schluchten-Staudamms, dessen See bis zur Stadt reicht, sie prägt und auch sehr großen Handelsschiffen die Zufahrt ermöglicht.
- In nur etwas über zehn Jahren wuchs Chongqing zur größten Stadt der Welt mit bald 33 Millionen Einwohnern. Und täglich kommen rund 6.000 hinzu. Kaum ein Haus ist älter als 30 Jahre.
- 2.000 Unternehmen haben sich mittlerweile angesiedelt.
- Gleich 2.200 sogenannte “superhohe Wohngebäude” (mit je mehr als 100 Metern Bauhöhe) bieten den Menschen Platz für sich und ihre Familien, in rund 500 Wolkenkratzern wird gearbeitet.
- In kurzer Zeit wurde die Stadt zum größten Automobil-Cluster Chinas.
- Und jeder dritte produzierte Laptop der Welt kommt heute aus Chongqing.
Mit dem Projekt versucht China eine Harmonisierung der ländlichen und urbanen Bevölkerung. Armen Wanderarbeitern aus den ländlichen Provinzen will Peking damit Perspektiven geben, sie am Fortschritt und Wohlstand partizipieren lassen. Ein ehemaliger Arbeiter vom Land wird von der Stadt Chongqing beschäftigt, erwirbt dabei ein Recht auf eine staatliche Pension, erhält einen Wohnungszuschuss sowie eine Krankenversicherung und kann Kinder auf eine öffentliche Schule schicken.
Betrachtet man diese moderne Seite Chinas, scheint zwar der alte Marxismus abgestreift, aber der (Neo-) Liberalismus für nicht erstrebenswert. Stattdessen hat sich so etwas wie ein “kleinbürgerlicher Sozialismus” entwickelt, wie es der in Harvard ausgebildete Cui Zhiyuan mit einem Augenzwinkern beschreibt. Und er steht für viele Talente in Chinas jungen und aufstrebenden Metropolen. Vom Westen lernen und ihn dann – im eigenen System – übertrumpfen, könnte das Motto dabei lauten.
Lernen wie die Chinesen?
Folgende Weisheit des chinesischen Philosophen Konfuzius ist bekannt: “Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.”
China ist erstaunlich erfolgreich damit, von den Stärken anderer Kulturen, Nationen und Wirtschaftssysteme zu lernen und diese Lernkurven in das eigene (Werte-) System zu adaptieren und integrieren.
Wenn wir wollen, können wir das umgekehrt auch.
Weiterführende Infos: AT&S etwa hat vor kurzem angekündigt, alleine dieses Jahr 600 Millionen Euro in Chongqing investieren zu wollen. Und Deloitte machte seine Kunden kürzlich bei einem Event auf neue Investitionsmöglichkeiten in der neu zusammengeschlossenen “Chengdu-Chongqing”-Wirtschaftszone aufmerksam.
Zum Autor
Mic Hirschbrich ist CEO des KI-Unternehmens Apollo.AI, beriet führende Politiker in digitalen Fragen und leitete den digitalen Think-Tank von Sebastian Kurz. Seine beruflichen Aufenthalte in Südostasien, Indien und den USA haben ihn nachhaltig geprägt und dazu gebracht, die eigene Sichtweise stets erweitern zu wollen. Im Jahr 2018 veröffentlichte Hirschbrich das Buch „Schöne Neue Welt 4.0 – Chancen und Risiken der Vierten Industriellen Revolution“, in dem er sich unter anderem mit den gesellschaftspolitischen Implikationen durch künstliche Intelligenz auseinandersetzt.